Coesfeld: "Moderne Sklaverei"
9. Mai 2020Seinen Namen will er nicht sagen, nur so viel: Er stammt aus dem rumänischen Sibiu, zu Deutsch: Herrmannstadt. Der etwa 50-jährige Mann mit dünnem, schwarzem Haar steht vor einem zweistöckigen Backsteingebäude in Rosendahl, einem Dorf im Münsterland. Das heruntergekommene Gebäude stehe unter Quarantäne, meint er. "Wegen des Coronavirus."
Öffentlicher Druck
Der Mann, der kaum Deutsch oder Englisch spricht, scheint nicht zu verstehen, was "Quarantäne" in Deutschland bedeutet - nämlich im Hausinneren zu bleiben. Er trägt zwar einen Mundschutz aus Papier, doch diesen locker um den Hals. Sein Mund und seine Nase sind frei. Zusammen mit vielen seiner Landsleute arbeitet er im benachbarten Coesfeld in der Großschlachterei "Westfleisch", die die Behörden vorläufig schließen ließen. Sie reagierten auf den öffentlichen Druck, nachdem bekannt wurde, dass ausländische Mitarbeiter des Betriebes positiv auf das Coronavirus getestet worden sind. Mit Stand Sonntagmittag beläuft sich die Zahl der infizierten Beschäftigten auf 205 Menschen, davon viele Rumänen, Bulgaren oder Polen.
Keiner fühle sich zuständig, beklagt die Grünen-Politikerin
Der rumänische Arbeiter vor seiner Unterkunft in Rosendahl kann oder will nicht sagen, mit wie vielen anderen Rumänen er in dem Haus wohnt. Er schätzt, dass es zwölf seien, vielleicht mehr. Kein Schild, kein Vertreter der Behörden weist darauf hin, dass das Haus unter Quarantäne steht. Auf dem Briefkasten am Haupteingang stehen zahlreiche rumänische Namen, die ein Filzstift auf dem Blech festgehalten hat. Während die Deutsche Welle mit dem Mann aus Hermannstadt spricht, kommt einer seiner Landsleute vorbei - unter anderem mit einem Paket Eiern unter dem Arm. Der Supermarkt ist fußläufig erreichbar.
Für den Schutz der ausländischen Arbeiter fühle sich keiner wirklich zuständig, beklagt Anne-Monika Spallek, Sprecherin der Grünen im Landkreis Coesfeld. Die Problematik werde "hin und her geschoben zwischen Kommunen, dem Kreis und dem Land NRW", sagt sie der DW. Sie führt das auch auf die Werksverträge zurück, die die Firma "Westfleisch" mit Subunternehmen geschlossen hat, bei denen die ost- und südosteuropäischen Arbeiter angestellt sind. Die Gesundheitsbehörden in Deutschland würden erst tätig, wenn jemand krank geworden sei, meint die Grünen-Politikerin.
"Westfleisch" habe die Verantwortung für die Unterbringung der ausländischen Mitarbeiter an Subunternehmer abgeschoben, kritisiert sie. Sie bezweifelt, ob sich diese immer an die gesetzlichen Vorschriften hielten. Dazu gehörten Infektionsschutzmaßnahmen für Sammelunterkünfte. Der entsprechende Erlass sieht "Einzelbelegung von Schlafräumen vor". Infizierte Personen müssten frühzeitig isoliert werden.
Arbeiter, die wie die Rumänen in Rosendahl unter Quarantäne stünden, müssten mit Lebensmitteln und anderen notwendigen Dingen versorgt werden, sagt Anne-Monika Spallek. Dort fährt nach unserem Gespräch mit dem rumänischen Arbeiter ein Kleinbus vor. Vertreter des Ordnungsamtes, der Zentralen Ausländerbehörde und des Gesundheitsamtes in Schutzleidung steigen aus, betreten das Gebäude mit den rumänischen Arbeitern. Offenbar werden diese erst jetzt auf das Coronavirus getestet. Später verkündet der Kreis Coesfeld, dass 930 Abstriche bei Mitarbeitern von "Westfleisch" genommen worden sind.
"Ganz arme Menschen"
"Ein bisschen spät", kritisiert einer der Anwohner die Ankunft der Behördenvertreter. Auf der anderen Straßenseite des Hauses mit den Rumänen treffen wir eine Frau, der die ausländischen Arbeiter bei "Westfleisch" leidtun. "Das sind ganz arme Menschen, die in schäbigen Quartieren untergebracht und ausgebeutet werden." Ein älterer Mann auf einem Fahrrad ergänzt, dass viele Anwohner nicht mehr in den benachbarten Supermärkten einkaufen gehen - aus Angst, dort infizierte Rumänen zu treffen.
15 Minuten mit dem Auto davon entfernt demonstriert Pastor Peter Kossen mit einem Gleichgesinnten vor dem Haupteingang der Großschlachterei "Westfleisch". Das Unglück sei "seit Wochen schon absehbar gewesen", meint er. Denn viele der ausländischen Arbeiter der Schlachterei seien untergebracht in "überbelegten, verschimmelten Sammelunterkünften und Bruchbuden", so der 51-jährige katholische Theologe aus Lengerich. Abstandsregeln könnten dort nicht eingehalten werden, sagt er der DW. Das gelte auch für "die vollgestopften Busse, in denen die Arbeiter zur Fleischfabrik transportiert werden". In der Hand hält er ein Schild mit der Aufschrift: "Moderne Sklaverei beenden."
Folgen für den Landkreis
Gleich hinter ihm öffnet und schließt sich die Schranke zum Werksgelände. Auch wenn die Behörden die Großschlachterei geschlossen haben, verlassen regelmäßig LKWs und einige Angestellte die Fabrik. Auf der Internetseite von "Westfleisch" heißt es inzwischen, dass infizierte Mitarbeiter und Kontaktpersonen sich in häuslicher Quarantäne befänden. Sie ständen mit ihren Mitarbeitern in engem Austausch.
Der Skandal hat Folgen für den Kreis Coesfeld. Denn in Nordrhein-Westfalen werden ab dem kommenden Montag Corona-Regeln gelockert. In Coesfeld im Münsterland hingegen bleiben sie bestehen - mindestens bis zum 18. Mai.
Die Angaben zu der Anzahl der Infektionen wurden aktualisiert.