Riad Sattouf: "Ich urteile nie"
16. Oktober 2017Deutsche Welle: Herr Sattouf, die meisten Ihrer Comics aber auch Ihr preisgekrönter Film "Les Beaux Gosses" befassen sich mit der Kindheit oder dem Erwachsenwerden. Was interessiert Sie so sehr an diesem Thema?
Riad Sattouf: Das ist schwer zu beantworten. Denn da passiert viel Unbewusstes, wenn ich eine Geschichte aussuche. Die Jugend ist eine Übergangszeit, während der man aus dem beschützten Kokon der Eltern heraustritt, hinein in die Realität. Man muss plötzlich alleine klar kommen. Auch die Hormone verändern sich und der Körper. Es fasziniert mich, diese Periode zu beschreiben, weil sie reich an neuen Sichtweisen auf verschiedene Dinge ist.
In "Der Araber von morgen" oder "Esthers Tagebücher" nehmen Sie zum Erzählen dieser besonderen Phase des Lebens die Kindperspektive ein. Die Art, wie man als Kind denkt, wie man die Dinge, seine Umwelt betrachtet, dürften die wenigsten Erwachsenen noch präsent haben. Wie gelingt es Ihnen, derart treffend diese Perspektive einzunehmen?
Im Fall von "Esthers Tagebüchern" zum Beispiel ist es so, dass Esther ein real existierendes Mädchen ist, das mir von seinem Alltag oder seinen Vorlieben erzählt. Das versuche ich so getreu wie möglich aufzuschreiben.
Was mich und meine eigene Geschichte angeht: Ich habe tatsächlich sehr klare Erinnerungen, ich erinnere mich wirklich gut an Situationen. Auch an Farben, Gerüche, Töne, an Stimmungen, das Aussehen von Orten. Die Erinnerungen, die ich an meine jüngste Kindheit habe, sind sehr reich an Informationen. Ich kann mich an einen bestimmten Ort erinnern und sehe ihn genau vor mir - wie es da aussah, die Straßen, die Steine, sogar welche Art von Steinen das war. Ich kann regelrecht dahin zurückkehren. Es ist, als ob ich ein Foto hätte und hineinzoomen kann.
Aber ich muss auch sagen, dass ich natürlich Dinge rekonstruiere. Zum Beispiel sind mir im Fall des "Arabers von morgen", vor allem Bilder aus meiner jüngsten Kindheit in Erinnerung geblieben. An die Dialoge erinnere ich mich nicht. Also rekonstruiere ich sie, um die Bilder für die Leser interpretierbar zu machen. Aber jetzt, beim Schreiben des neuen Bandes, erinnere ich mich auch an Dialoge, so wie sie wirklich stattgefunden haben. Und da schreibe ich sie dann auch genauso auf.
Die zehnjährige Esther aus Paris ist die Tochter eines Paares, mit dem Sie befreundet sind. Sie kamen unter anderem darauf, Esthers Geschichte zu erzählen, weil Sie sich dachten, es könnte interessant sein, Esther und sich selbst, als Sie etwa zehn Jahre alt waren, nebeneinander zu stellen. Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten gibt es zwischen ihnen beiden?
Der große Unterschied zwischen Esther und mir ist: Damals war Technologie vor allem Science-Fiction. Für Esther aber ist das Handy etwas Greifbares, etwas das sie haben muss, und das ihr dabei hilft zu kommunizieren, Zugang zu einer Welt an Infos zu haben. Das verändert ihre Art, wie sie die Welt sieht. Als ich klein war, wusste man bei sehr langen Reisen oftmals nicht, wo es lang ging, es gab keine Infos in Echtzeit. Die Welt war terrestrischer und größer. Esther, die noch nie verreist ist, gibt "Afrika" in ihr Telefon ein, sie sieht vier Fotos und hat das Gefühl, dort gewesen zu sein.
Was die Beziehungen zwischen Jungen und Mädchen angeht, da ist einiges ähnlich zwischen ihr und mir. Zum Beispiel war meine Schule in Syrien keine gemischte. Die Jungs waren auf der einen Seite des Schulgeländes, die Mädchen auf der anderen. Die Jungs spielten zusammen Fußball, und die Mädchen machten unter sich ihre Spiele. So sah es aber eben auch das Gesetz vor. Die Schule funktionierte nun mal so.
Esthers Schule in Paris ist eine private, die zwar eigentlich gemischt ist, aber im Pausenhof trennen sich die Jungs und Mädchen von alleine und spielen nicht miteinander. Also das gleiche System im Grunde, nur dass die Trennung in Syrien vorgeschrieben war und sie in Frankreich machen können, was sie wollen. Sie ziehen es sozusagen von alleine so durch. Das hat mich überrascht.
In der Esther-Episode "Charlie", die vom Tag des Attentats auf die Satirezeitung "Charlie Hebdo" handelt, sagt Esther am Schluss: "Ich glaube, über Götter sollte man lieber nicht spotten." Wie haben Sie darauf im Gespräch mit ihr reagiert?
"Esthers Tagebücher" ist ein bisschen wie eine Tierdoku - ich kann nicht intervenieren. Das mache ich wirklich nie. Was ich aber mache, ist, eine Frage zu einem bestimmten Thema zu stellen. Aber ich urteile nie über das, was sie mir sagt. Wenn ich das tun würde, dann würde sie mir nichts mehr erzählen. Es liegt an ihren Eltern, sie zum Nachdenken anzuregen.
Das ist schwer vorstellbar, dass Sie sich immer zurückhalten können. Immerhin haben Sie auch neun Jahre für "Charlie Hebdo" gezeichnet.
Doch, das kann ich. Genau das macht auch unter anderem das Projekt "Esthers Tagebücher" aus. Dass man manchmal Sachen hat, die sie erzählt, die aus moralischer Sicht schockierend sind. Zum Beispiel ist sie sehr grausam zu einem kleinen Jungen, der eigentlich ganz nett zu sein scheint, und behandelt ihn schlecht. Aber auch das ist eben Teil der Kindheit, und ich bin gezwungen auf ihrer Seite zu stehen - auch wenn ich mich eher mit dem kleinen Jungen identifizieren würde. Aber nun sitze ich eben mit ihr zusammen, und auch wenn es manchmal moralisch grenzwertig ist, erzähle ich die Dinge.
Zunächst publizierten Sie Esthers Geschichten in der französischen Wochenzeitung "L'Obs", und auch andere Comics von Ihnen erschienen erst in einer Zeitung oder Zeitschrift, ehe Bücher daraus wurden. Wie wichtig ist die Printpresse eigentlich für Sie als Comiczeichner?
Was für mich wichtig ist bei der Printpresse, ist die Tatsache, dass es da einen Rhythmus von zum Beispiel einer Woche gibt. Nachdem ich nämlich der Kategorie von Schülern angehörte, die ihre Hausaufgaben im Bus fertigmachten - ich habe nichts im Voraus gemacht - brauche ich einen Anschubser. Jemanden, der mir jede Woche sagt: "Du musst deine Seite abliefern." Was ich auch sehr an Print mag, ist, dass es dann eben auch jede Woche Reaktionen von den Lesern gibt. Ich glaube nicht, dass ich aufhören werde, das zu tun, ich liebe das.
Das Gespräch führte Bettina Baumann.
Riad Sattouf, 1978 in Paris geboren, ist der Sohn einer französischen Mutter und eines syrischen Vaters. Er wuchs in Libyen und Syrien auf, ehe er mit zwölf Jahren nach Frankreich zurückkehrte. Von seiner Kindheit im Nahen Osten erzählt er in seiner Graphic Novel "Der Araber von morgen". Drei Bände sind bereits erschienen, zwei weitere sollen noch folgen.
Sein Projekt "Esthers Tagebücher" wird eine Langzeitbeobachtung sein. Zehn Jahre lang will der Autor das Pariser Mädchen Esther bei seinem Erwachsenwerden begleiten. In Deutschland ist bisher der erste Band erschienen. Neben dem Zeichnen und Schreiben war Sattouf auch an mehreren Filmen beteiligt. Für den Jugendfilm "Les Beaux Gosses" (2009) erhielt er als Regisseur sogar den César, Frankreichs wichtigste Filmauszeichnung.