"Kein Kompass in der Krise"
22. Januar 2013Deutsche Welle: Herr Cohn-Bendit, sind Sie in Feierlaune?
Daniel Cohn-Bendit: In Feierlaune?
Der deutsch-französische Elysée-Vertrag ist im 50. Jahr seines Bestehens. Das wird groß gefeiert. Wie nehmen Sie dieses Ereignis wahr?
Das, was man unter dem Elysée-Vertrag versteht, das heißt, diese deutsch-französische Befriedung, ist natürlich eine zivilisatorische Leistung. Das, was wir heute haben, ist unglaublich, wenn man sich vergegenwärtigt, woher diese beiden Länder kommen.
Wie hat sich die Beziehung entwickelt? Derzeit diskutiert man ja über das angespannte Verhältnis zwischen Staatspräsident Hollande und Kanzlerin Merkel. Ist das noch die viel beschworene deutsch-französische Freundschaft?
Ich bin immer verblüfft, dass man die Frage der Freundschaft an dem Zustand der beiden Regierungen misst. Es gibt zwei Regierungschefs, die können sich verstehen oder nicht. Das ist eigentlich völlig egal. Sie können sich politisch verstehen, sie können sich menschlich verstehen oder nicht. Aber ich glaube, dass die französische und die deutsche Gesellschaft einen ganz selbstverständlichen, unverkrampften Umgang miteinander haben, und dies ist fest verankert. Und das wird nicht dadurch verändert, ob Frau Merkel Herrn Sarkozy mag oder Hollande Frau Merkel versteht oder nicht. Das heißt, wir haben heute eine deutsch-französische Normalität, jenseits dessen, was Regierungen tun und denken oder tun wollen.
Besteht diese Normalität der Beziehungen auch jenseits der Ereignisse der letzten Jahre? Ich meine damit die Eurokrise - hat sie den Blick der Franzosen auf die Deutschen verändert?
Man kann natürlich sagen, dass die Eurokrise und die Position, die Deutschland eingenommen hat, eine ganze Anzahl von Franzosen befremdet. Vielleicht sogar die Mehrheit der Franzosen. Aber das sind normalpolitische Spannungen. Es gibt auch Spannungen in Frankreich, Deutschland oder wo auch immer zwischen rechts und links. Aber das ist keine Aussage oder kein Maßstab über diese Normalität. Es ist auch normal, dass sich bestimmte politische Mehrheiten in einem Land konstituieren. Und wenn in dem Moment ein anderes Land eine andere Vorstellung von politischen Notwendigkeiten hat, gibt es eine politische Spannung, aber das ist keine gesellschaftliche Spannung.
Dann werfen wir doch mal einen Blick auf die Gesellschaft: auf die Menschen in beiden Ländern abseits der großen Politik. Ist es denn so, dass die Deutschen von den Franzosen gelernt haben und die Franzosen auch ein Stück weit deutscher geworden sind?
Ich glaube, das ist eine abstrakte journalistische Frage.
Diese Frage stelle ich Ihnen gerne.
(Lachend) Klar hat sich die deutsche Gesellschaft geöffnet. Die Globalisierung in Deutschland fing mit der Öffnung gegenüber den unmittelbaren Nachbarn an. Dadurch, dass man in den Ferien nach Frankreich gefahren ist, französisches Essen in Deutschland Einzug gehalten hat und französischer Wein eine wichtige Rolle spielt. Dies alles hat den Alltag normalisiert. Gleichzeitig sehen die Franzosen - manchmal neidisch, manchmal vielleicht ein bisschen befremdet -, wie effizient die Deutschen sind. Gerade in der Wirtschaftspolitik. Und deshalb glaube ich, dass beide Gesellschaften interessiert bis misstrauisch auf den anderen schauen.
Nach einer neuen Umfrage mögen die Deutschen die Franzosen mehr als umgekehrt.
Ich habe diese Umfrage gesehen. Es gibt aber eine Realität, die der Umfrage widerspricht: die Anzahl der jungen Franzosen in Berlin! Es gibt eine Faszination in Europa und in Frankreich für Berlin. Für die Stadt Berlin, für den Lebensstil Berlin. Für das, was Berlin kulturell ausmacht und sich im Lebensstil ausdrückt.
Was ist das genau, was Berlin für die jungen Franzosen ausmacht?
Berlin ist eine absolut coole, offene, kulturelle Stadt. Da geht der Punk ab! Ich bin davon immer fasziniert. Ich werde ja nicht Wahlkampf machen. Wenn, müsste ich das in Berlin machen. Da hätte ich viele Wählerinnen und Wähler.
Sie haben sich mehrfach vehement gegen die Nationalstaaterei ausgesprochen und ein föderales Europa der Regionen gefordert. Welche Rolle würde dabei der deutsch-französische Motor spielen?
Das Interessante ist immer, dass die Deutschen vom deutsch-französischen Motor und die Franzosen vom deutsch-französischen Tandem sprechen. Es wird keinen Schritt hin zu einer Vertiefung der Europäischen Union, zu einer Föderalisierung geben ohne eine gemeinsame Position Deutschlands und Frankreichs. Aber das genügt nicht mehr. Das heißt, in einem Europa der 27 Staaten reicht eine Einigung Deutschlands und Frankreichs nicht mehr. Damit ist nicht sicher, dass eine bestimmte Entwicklung eingeleitet wird. Das ist etwas, was Deutschland und Frankreich lernen müssen oder die politisch Handelnden, die Regierungen. Sie müssen eine Intelligenz entwickeln, wie sie gemeinsam die anderen Länder mitnehmen. Wenn man an die unmittelbare Geschichte Merkozy, also Merkel und Sarkozy, denkt: Das war das genaue Gegenteil. Die haben geglaubt, sie treffen sich im Schatten des Kasinos von Deauville, beschließen etwas und dann läuft der Punk. Und da ist nix gelaufen. Das ist etwas, was Deutschland und Frankreich noch lernen müssen.
Glauben Sie, dass Deutschland und Frankreich in Bezug auf die Entwicklung in Europa noch Motor oder eher Bremser sind?
Das Problem ist, dass sie nicht genau wissen, was sie wollen. Wenn man nicht weiß wohin, kann man auch nicht die richtige Richtung einschlagen. Und den politisch handelnden Personen fehlt der Kompass. Wir sind im Nebel, und wenn Sie keinen Kompass haben, rennen Sie im Kreis. Sie kommen immer an den Ausgangspunkt zurück. Das ist das Gefühl, was viele Menschen haben. Die Deutschen und Franzosen wissen nicht weiter. Sie haben keine Orientierung, und deshalb können sie keine Vorschläge machen.
Ist das angesichts der Eurokrise nicht zu viel verlangt? Alle sind in diese Krise förmlich hineingestolpert. Niemand hat die Erfahrung, wie man mit einer solchen fundamentalen Krise umgehen soll. Sind europäische Politiker überhaupt in der Lage, dieses Problem auf Anhieb zu meistern?
Sicher ist das viel. Nur: If you can't stand the heat, get out of the kitchen. If you can't do it, geh' Fußball spielen. Es ist nun mal der Anspruch, dass man mit einer Politik aus der Krise heraus will. Und wenn man sich überfordert fühlt, was ich verstehen kann, dann soll man Murmeln spielen gehen.
Da wir gerade bei Ansprüchen sind - wenn Sie in Bezug auf die deutsch-französische Freundschaft einen Wunsch frei hätten: Was würden Sie beiden Ländern mit auf den Weg geben?
Eins würde ich machen: Ich würde eine Idee "Europa von unten" oder "Europa für alle" anstoßen. Wie das EU-Erasmus-Programm, das es Studenten ermöglicht, im Ausland zu lernen. Aber für alle, nicht nur für Studenten. Also dass Deutschland und Frankreich in Europa die Möglichkeit des Austausches vorantreiben, dass alle, die studieren, die eine Lehre machen, die eine Arbeit haben, ein Jahr lang in Europa arbeiten oder eben studieren können. Ich wünsche mir, dass wir Finanzen bereitstellen, um die Mobilität und das gegenseitige Erfahren rapide zu steigern.
Daniel Cohn-Bendit (geboren am 4. April 1945 in Montauban/Frankreich) ist stellvertretender Fraktionschef der Grünen im Europaparlament und Mitglied der deutschen Grünen. Im Mai 1968 war er der prominenteste Sprecher der Studenten während der Unruhen in Paris. Nach seiner Ausweisung aus Frankreich ging er nach Deutschland. In der linken Szene von Frankfurt am Main spielte er in den 70er Jahren eine führende politische Rolle. Gemeinsam mit Joschka Fischer engagierte er sich in der alternativen Bewegung. 1984 trat er den Grünen bei. 1994 wurde er in das Europäische Parlament gewählt. Er kandidierte abwechselnd für die deutschen und die französischen Grünen. Cohn-Bendit schrieb zahlreiche politische Bücher und ist Moderator in verschiedenen Fernsehsendungen. Der 67-Jährige wohnt in Frankfurt, ist deutscher Staatsbürger und hat einen Sohn.