"Erster Schritt der Anerkennung des Leids"
23. Januar 2020DW: Im Rahmen des von Gambia angestrengten Völkermordverfahrens gegen Myanmar hat der Internationale Gerichtshof Myanmar auferlegt, alle vier bzw. sechs Monate über Maßnahmen zum Schutz der Rohingya-Minderheit zu berichten. Das klingt für einen Außenstehenden nach recht milden Maßnahmen.
Tams: Am Internationalen Gerichtshof gehen Verfahren generell über einen langen Zeitraum, das ist keine "Rechtsanwendung auf die Schnelle". Aber ungewöhnlich für den Internationalen Gerichtshof ist bei dem jetzigen Beschluss, dass er nicht nur Maßnahmen angeordnet, sondern dem beklagten Staat eine Berichtspflicht auferlegt hat. Das ist aus Sicht dieser völkerrechtlichen Gerichtsinstanz ungewöhnlich. Es stimmt, die Frist ist jetzt nicht so gelegt, dass Myanmar sofort tätig werden müsste. Aber die Tatsache, dass überhaupt eine Berichtspflicht hineingeschrieben wurde, zeigt, dass es dem Gerichtshof hier ernst war.
Im wesentlichen sind die Maßnahmen, die Gambia gefordert hatte, in seinem Sinne angeordnet worden. Mit einer wichtigen Ausnahme: Myanmar sollte verpflichtet werden, UN-Inspekteure ins Land zu lassen, die sich mit den Vorwürfen als unabhängige Instanz auseinandersetzen sollten. Das hat der IGH nicht beschlossen, sondern als zu weitgehend empfunden.
Glauben Sie, dass die betroffene Minderheit und ihre Fürsprecher mit diesem ersten Beschluss des Gerichtshofes zufrieden sein werden?
Ja, das glaube ich schon. Die ersten Reaktionen zeigen, dass es als ein erster Schritt in Richtung Anerkennung des Leidens der Rohingya gesehen wird.
Man muss dabei immer sehen, und der IGH hat es auch in jedem Satz klargemacht: Die Hauptsache darf nicht vorweggenommen werden, wie es im Juristendeutsch heißt. Mit anderen Worten: Dieser Beschluss darf nicht so gelesen werden, als ob der Gerichtshof schon endgültig in der Kernfrage Stellung bezogen hätte. Und die lautet: Sind die Rohingya tatsächlich Opfer eines Völkermordes? Nur darum geht es, es geht nicht darum, dass ihnen Leid geschieht oder ihre Menschenrechte verletzt werden. Der heutige Beschluss zu der Schutzmaßnahme lässt sich dazu nicht ein. Ob ein Völkermord vorliegt, wird erst in der Hauptsache entschieden, wenn viel mehr Informationen vorliegen.
Ein Urteil über den Völkermordvorwurf als solcher ist also noch nicht gesprochen. Worin besteht dann die Bedeutsamkeit der heutigen Gerichtsentscheidung?
Vor allem in der Anerkennung durch das höchste internationale Gericht, dass das Schicksal der Rohingya nicht egal ist, dass es in einem gerichtlichen Verfahren aufgearbeitet werden wird und dass Myanmar nicht bis zum Ende dieses langen Verfahrens machen kann, was es will.
Ebenfalls sehr wichtig ist auch: Myanmar darf keine Hinweise auf vergangene Grausamkeiten oder Zerstörungen vernichten oder verschwinden lassen. Es muss darüber hinaus wirksame Maßnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass die Täter Beweise verschwinden lassen, auch darüber muss es berichten. Und Myanmar muss klare Maßnahmen gegenüber seinem Militär treffen, um zu verhindern, dass der Konflikt weiter eskaliert.
Das sind also Verfahrensvorgaben an Myanmar, die über den bloßen Appell "Man soll keinen Völkermord begehen" hinausgehen. Und die Berichtspflicht ist wichtig, weil sie einen beständigen Diskurs und eine beständige Prüfung ermöglicht. Und das ist beachtlich an diesem Verfahren, was es hervorhebt aus der nicht großen, aber relevanten Anzahl früherer Verfahren, die ähnlich ausgerichtet waren.
Nun hat das Gericht keine Möglichkeit, die Befolgung seiner Beschlüsse zu erzwingen, und es kann nur prüfen, was die Regierung von Myanmar ihm vorlegt. Relativiert das die Bedeutung des heutigen Spruchs?
Das würde ich nicht sagen. Zwischenstaatliche Gerichtsverfahren sind nicht vergleichbar mit staatsanwaltlichen Ermittlungen. Aber die internationale Gemeinschaft kümmert sich um die Frage der Rohingya ja nicht nur durch ein IGH-Verfahren, es gibt Debatten im Sicherheitsrat, es gibt eine UN-Mission, die Fakten sammelt. Der IGH ist ein Baustein in einem nicht immer koordinierten, aber übergreifenden internationalen System, das sich immerhin einigermaßen um die Rohingya kümmert und hoffentlich in Zukunft mehr, als es das bisher getan hat.
Christian Tams ist Lehrstuhlinhaber für Völkerrecht an der Universität von Glasgow und Direktor des Glasgow-Zentrums für Völkerrecht und Sicherheit (GCILS)