Dercon: Nicht für den Fanclub
16. Mai 2017Nun sind sie endlich bekannt, Chris Dercons Pläne für seine erste Spielzeit als neuer Intendant der Berliner Volksbühne. Sie waren mit Spannung erwartet worden, zumal Dercon in der hitzigen Diskussion um die Zukunft der Volksbühne bisher jede inhaltliche Festlegung mit Verweis auf seine erste Spielplanpressekonferenz verweigert hatte.
16 Premieren stehen in der ersten Hälfte der Spielzeit auf dem Programm, davon 13 Eigenproduktionen. Eröffnet wird die Spielzeit am 10. September in einer neuen Spielstätte, dem Hangar 5 des früheren Flughafens Tempelhof. Geboten wird eine große Tanzperformance des Choreografen Boris Charmatz und seinem "Musée de la danse". In der Volksbühne selbst geht es wenig später mit drei Einaktern des britischen Dramatikers Samuel Beckett und Arbeiten des in Berlin lebenden Künstlers Tino Sehgal weiter.
Angst vor Zweckentfremdung
Als im April 2015 die Entscheidung des Berliner Senats bekannt wurde, dass Frank Castorf nach 25 Jahren als Intendant der Volksbühne durch Chris Dercon abgelöst werden sollte, hatte das Empörung in Teilen der Berliner Theaterszene ausgelöst. Castorf hat Theatergeschichte geschrieben, Dercon, zuletzt Chef der Tate Gallery of Modern Art in London, ist Museumsexperte und hat noch nie ein Theater geleitet. Kritiker sahen die linke Traditionsbühne am Rosa Luxemburg Platz, die sich einst aus Beiträgen des Vereins Freie Volksbühne finanzierte - sogenannten "Arbeitergroschen - als "Eventbude" zweckentfremdet und befürchteten die Zerschlagung des Ensembles. Im Interview mit der Deutschen Welle spricht Chris Dercon über seine Pläne für die erste Spielzeit und erklärt, wie er Berlin und die Belegschaft der Volksbühne für sich gewinnen will.
Deutsche Welle: Herr Dercon, die Volksbühne kennt man ja bisher vor allem als eminent politisches, linkes Theater. Was ist Ihre Vision für die Zukunft der neuen Volksbühne?
Chris Dercon: Ich möchte, dass die Volksbühne ein öffentlicher, durchlässiger Ort wird, mit Raum für die unterschiedlichsten Kunstformen von darstellender Kunst.
Die Volksbühne stand immer für die Freiheit der Kunst. Wir müssen uns jetzt aber neu Gedanken machen über die Rolle des Theaters. Ich glaube, die darstellenden Künste sind mehr als anderes geeignet, sich mit unserer Zeit auseinanderzusetzen. Einer Zeit, in der die Wirklichkeit das Theater übertrifft - denken Sie etwa an Trump. Kunst an sich ist hochpolitisch. Und übrigens auch der Tanz ist es. Aber es geht nicht darum, das Vertraute anzubieten und dann sagt der Fanclub: Ja so ist das. Wir wollen überraschen, auch mit einer neuen Interaktion zwischen den Kunstformen.
Hier auf dem Tempelhofer Feld eröffnen Sie Ihre erste Saison mit einer Tanzperformance von Boris Charmatz. Hangar 5, aber auch das Flugvorfeld, werden unter dem Motto "Ganz Berlin tanzt" zu einer großen Bühne umfunktioniert. Wie kam es zu dieser Idee?
Tempelhof ist uns wichtig, weil wir Künstlern auch eine Nichtbühne anbieten, um neue Projekte, neue Präsentationsformen zu entwickeln. Es gibt heute viele Theatermacher, die nicht mehr mit der klassischen Abtrennung Bühne und Zuschauerraum arbeiten wollen, nicht nur den Choreographen Boris Charmatz. Wir haben den syrischen Schriftsteller Mohammad Al Attar, der in seiner Iphigenie mit syrischen Flüchtlingsfrauen arbeitet. Sie werden im Moment gecastet und trainiert. Und wir haben auch die berühmte Rapperin Kate Tempest, die auch Dramatikerin ist und uns zeigen kann, wo das Sprechtheater hingehen kann.
Offensichtlich glauben Sie, dass sich die Volksbühne für andere Kunstsparten öffnen muss.
Die Volksbühne hat immer gesagt, sie lebt von einem Patchwork von Minderheiten. In Berlin gibt es eine gewisse Separierung, aber wir wollen das mit neuen Kooperationen verändern. Wir wollen die unterschiedlichen Kunstsparten miteinander in Beziehung setzen. Das war mir in meinem ganzen Leben wichtig, auch im Museum. Aber erst jetzt im Theater kann ich das nachhaltig gestalten. Zum Beispiel: Ein Tänzer spricht, ein Filmemacher macht Licht für die Bühne. Oder man versucht, Beckett zu kombinieren mit Arbeiten von Tino Sehgal.
Sie erwähnten Samuel Beckett, mit dessen Einaktern Sie Ihre erste Saison im Haupthaus der Volksbühne eröffnen. Warum Beckett?
Weil Beckett etwas zu tun hat mit Sprache. Weil er uns zum Nachdenken bringt darüber, wie wir miteinander sprechen: Tweets, Retweets, Posts. Gibt es noch Unterschiede zwischen sogenannten Gefühlen und Facts? Zwischen Facts und Fakenews? Die Art und Weise, wie Samuel Beckett Sprache beherrscht und immer wieder neu präsentiert, ist ein Prolog, um zu verstehen, wie es zur Sprache von heute gekommen ist.
Sie haben für das Internet die Plattform "Volksbühne Fullscreen" entwickelt, eine neue digitale Bühne. Wird das eine Art Laboratorium oder Testfeld sein?
Die Volksbühne Berlin steht für unterschiedliche Spielstätten. Es stimmt, eine soll auch im Netz sein. Wir wollten eine dynamische Website kreieren, nicht mit noch mehr Service. Sondern einen Ort, an dem man ausprobieren kann, theatralische Erzählformen in digitale Kultur umzusetzen. Das ist spannend in einer Zeit, in der sich Filmemacher wie Alejandro Iñárritu in der virtual reality bewegen. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass das Theater auch Experimente im digitalen Raum macht. Nicht um das Theater mit der digitalen Kultur zu versöhnen, sondern um zu experimentieren und Neues herauszufinden.
Wenig wurde bei Ihrer Pressekonferenz über ein Schauspieler-Ensemble und Repertoire gesprochen. Beides haben Sie nicht, hätten es aber gerne. Das ist ja auch ein Resultat Ihrer Auseinandersetzung mit Ihrem Vorgänger.
Wir haben Frank Castorf und die Hausregisseure der Volksbühne René Pollesch, Herbert Fritsch und Christoph Marthaler angesprochen, um Stücke für das Repertoire und vor allem für die Zukunft der Volksbühne zu bewahren. Sie haben ganz deutlich "nein" gesagt. Wir müssen jetzt ein eigenes Repertoire und ein neues Ensemble aufbauen.
Ihnen wurde häufig vorgeworfen, Sie wollten das Ensemble zerschlagen und nur noch Künstler für temporäre Projekte buchen. Stimmt das?
Das stimmt absolut nicht. Ich will gerne mit einer Familie, mit einer festen Truppe arbeiten. Aber das muss man erst wieder aufbauen.
Hier in Berlin haben Sie sehr viel Gegenwind zu spüren bekommen. Es gab auch einen offenen Brief von der Belegschaft und noch heute regt sich Widerstand im eigenen Haus. Wie wollen Sie die Berliner und auch die Mitarbeiter auf Ihre Seite ziehen?
Wir hatten heute Morgen eine sehr gute Personalversammlung. Man muss unglaublich viel erklären. Das ist mir früher nicht immer gelungen. Man muss ständig versuchen, besser zu erklären. Und das hat jetzt positive Resultate gezeigt.
Haben Sie nicht die Befürchtung, dass Sie da ausgebremst werden?
Nein, nicht im eigenen Haus. Aber vielleicht durch die Politik.
Sie meinen den neuen Kultursenator Klaus Lederer, der Ihren Vertrag zunächst infrage gestellt hatte. Sie haben in Berlin wenig Freunde, wie kann man da erfolgreich sein?
Na, ich bin noch immer da. Und ich arbeite daran. Ich bin es gewohnt, mit viel Gegenwind zu arbeiten: In München, in Rotterdam. Nicht, weil ich die Provokation oder die Konflikte suche. Aber vielleicht weil ich ein Außenseiter bin und meine Freiheit nutze.
Haben Sie noch einmal Lust, den Faust zu sehen, das letzte Stück Ihres Vorgängers Frank Castorf, bevor es abgesetzt wird?
Nein, denn es handelt von mir. (Anm. der Red.: Castorf thematisiert in seiner Faust-Inszenierung die Themen Kolonisierung und Übernahmen; genau das, was viele mit der Verpflichtung von Chris Dercon verbinden).
Das Interview mit Chris Dercon führte Gero Schließ.