Chinesischer Spagat
31. Dezember 2003China wird wegen seines dauerhaft hohen Wirtschaftswachstums oft als Lokomotive der Weltwirtschaft bezeichnet. Auch die deutsche Wirtschaft setzt auf China. Das hat der inzwischen schon fünfte China-Besuch von Bundeskanzler Schröder Anfang Dezember 2003 wieder deutlich gezeigt: Seine Delegation bestand vor allem aus hochrangigen Vertretern deutscher Unternehmen. Dabei hat China nicht immer die Träume von Unternehmern beflügelt.
Noch Anfang der 1960er Jahre sind Millionen von Menschen beim verheerenden "großen Sprung nach vorn" verhungert. Während der Kulturrevolution von 1966 bis 1976 hat sich das Land komplett vom Ausland isoliert. Der darauf folgende Beginn des chinesischen Wirtschaftswunders lässt sich präzise datieren: auf den 18. Dezember 1978. Damals, vor 25 Jahren, machte das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas den Weg frei für Deng Xiaopings "Reform- und Öffnungspolitik".
"Wahrheit in den Tatsachen suchen"
"Die Wahrheit in den Tatsachen suchen!" - mit diesem Spruch leitete Deng Xiaoping die neue Politik ein. Nach den Wirren der Kulturrevolution hatte China einen Schuss Realitätssinn bitter nötig. In Japan, Südkorea, in Südostasien wurde immenser Wohlstand geschaffen. In China jedoch lähmte die den ideologischen Vorgaben folgende Staatswirtschaft jede wirtschaftliche Entwicklung.
Die vorsichtige Einführung marktwirtschaftlicher Elemente in die Planwirtschaft konzentrierte sich zunächst auf die Landwirtschaft und sorgte in verblüffend kurzer Zeit für eine deutliche Verbesserung der Versorgungslage. Die Produktionskraft von Hunderten von Millionen Bauern stieg nach all den Jahren der Zwangskollektivierung sprunghaft an. Auf einmal galt es als ehrenvoll, reich zu sein, wo zuvor noch totale Gleichmacherei herrschte.
Reform-Geist
Damals wehte nicht nur der Geist wirtschaftlicher Reformen durch China. Es war die kurze Ära der "Mauer der Demokratie". Täglich versammelten sich die Menschen, um die neuesten Wandzeitungen zu diskutieren. An dieser "Mauer der Demokratie" im Herzen Pekings hängte auch der Dissident Wei Jingsheng seine legendären Wandzeitungen auf. Darin erklärte er, eine Modernisierung Chinas sei nur dann der Mühe wert, wenn sie auch Demokratie und Freiheit bringe.
Anders als die Wirtschaftsreformen war die "Mauer der Demokratie" aber nur eine kurze Phase wohl kalkulierter Toleranz. Sie diente Deng Xiaoping lediglich dazu, jene Gegenspieler niederzuringen, denen selbst die Einführung marktwirtschaftlicher Elemente schon ein unverzeihlicher Verrat am Erbe Maos war. Schon im März 1979 ging Deng gegen Liberale, Reformer. Dissidenten vor – mit aller Härte. Wei Jingsheng etwa wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt.
Seither versucht China den Spagat zwischen wirtschaftlichen Reformen und politischem Stillstand, orientiert am Modell des autokratisch regierten Stadtstaates Singapur. Nicht ohne Erfolg: 250 Millionen Chinesen telefonieren heute mit Handys und machen China zum größten Mobilfunkmarkt der Welt. Der Transrapid schwebt durch Shanghai und VW hat in China mehr Autos verkauft als in Deutschland.
Manche sind gleicher
Aber unter der glänzenden Oberfläche gärt es: Noch der 1997 gestorbene Deng hatte die Losung ausgegeben, einige Chinesen dürften zuerst reich werden. Und: Es sind auch einige zuerst reich geworden. Besonders großer Reichtum wurde da angehäuft, wo sich politischer Einfluss gegen materielle Vergünstigungen eintauschen ließ. Oder dort, wo sich im Zuge der Privatisierung von Staatsbetrieben Gruppen mit guten Verbindungen Filetstücke sichern konnten.
An 800 Millionen Menschen auf dem Land ist der Reichtum aber vorübergegangen – und eine wachsende Gruppe von Menschen sieht sich als Modernisierungsverlierer. Legale Kanäle für ihren Unmut gibt es aber auch heute noch nicht. Jeder Versuch einer Organisation außerhalb der Organe der KP Chinas wird mit aller Härte verfolgt. Und in den traditionellen Medien wie im Internet wacht die Partei weiterhin mit Argusaugen darüber, in welchen Tatsachen die Wahrheit gesucht werden darf. Wer sich dort zu weit aus dem Fenster lehnt, wird heute genauso verfolgt wie Wei Jingsheng vor 25 Jahren.