Chinas weiter Weg zur Fußball-Weltmacht
3. November 2022"Ich nenne das Roboter-Fußball", sagt Lars Isecke, wenn er beschreibt, was er in China beim Fußball-Jugendtraining oft beobachtet. Die Trainer dort arbeiteten viel mit Drill. "Zwei Spieler stehen sich gegenüber und passen sich den Ball zu, das ganze aber ohne Positionswechsel", beschreibt Isecke eine gängige Übungsform. Der deutsche Fußballlehrer, der lange Zeit im Nachwuchsbereich des DFB und der Trainerausbildung tätig war, ist seit einigen Jahren Leiter der höchsten Trainerausbildungsstufe beim chinesischen Fußballverband CFA. "Mich wundert es nicht, wenn es in der Nationalmannschaft Spieler gibt, die auch nur eindimensional den Ball passen können und kein Verständnis haben für ihre Mitspieler sowie für Raum, Zeit und wann und wohin sie den Ball abspielen müssen. Das hat mit modernem Fußball sehr wenig zu tun."
Dabei hat China eigentlich Großes vor - nicht nur geopolitisch und wirtschaftlich - sondern auch im Fußball. 2015 wurde ein Plan verabschiedet und ein landesweites Fußballprogramm verordnet. Auf Betreiben von Staatspräsident Xi Jinping höchstpersönlich wurden die fußballerischen Ambitionen sogar als offizielles Staatsziel formuliert, das nach wie vor gilt: Bis 2030 soll das chinesische Männerteam asiatische Spitze sein, bis 2050 sogar erweiterte Weltspitze.
International nicht konkurrenzfähig
Allerdings ist dieser Weg für Chinas Nationalmannschaft aktuell noch sehr weit. Seit 2002, als zum ersten und bislang einzigen Mal überhaupt eine Qualifikation zur Weltmeisterschaft gelang, ist Chinas Männerteam - derzeit Nummer 79 der FIFA-Weltrangliste - nicht mehr bei einer Endrunde dabei gewesen. Auf dem Weg nach Katar scheiterten die Chinesen in der finalen Gruppenphase. Gegen die asiatischen Fußball-"Schwergewichte" Saudi-Arabien, Japan und Australien waren sie vollkommen chancenlos und wurden in ihrer Sechsergruppe nur Fünfte. Beim letzten Asien-Cup, 2019 in den Vereinigten Arabischen Emiraten, war im Viertelfinale Schluss, und auch die Olympiamannschaft konnte sich nicht für die Spiele 2021 in Tokio qualifizieren.
Bei einer Bevölkerung von über 1,3 Milliarden Menschen, so lautet eine gängige These, die auch Lars Isecke oft zu hören bekommt, muss es doch möglich sein, elf Talente zu finden und eine gute Mannschaft zu formen. Geld und Infrastruktur sind vorhanden, allerdings gibt es in China nicht Millionen aktiver Fußballerinnen und Fußballer, auch nicht Hunderttausende. Vielmehr beschränkt sich die Zahl gerade einmal auf einige Tausend. Das hat nach Meinung Iseckes vor allem kulturelle und gesellschaftliche Gründe.
"Das Schulsystem gibt nicht genügend Freiraum für einen kreativen Sportunterricht. Alleine die Schulzeiten bis weit in den Nachmittag plus stundenlange Hausaufgaben verhindern schon das Fußballspielen", sagt er. Dass sich am Nachmittag oder am Wochenende eine Gruppe von Freunden oder Nachbarskindern einen Ball schnappe und auf den Bolzplatz gehe, komme schlicht nicht vor, so der deutsche Trainer.
Elitäres Bildungssystem
"Das Alltagsleben ist für chinesische Kinder ziemlich anstrengend, weil in China ein elitäres Bildungssystem herrscht", bestätigt Hangkun Strian gegenüber der DW. Sie ist Sinologin, Literatur- und Sprachwissenschaftlerin und arbeitet als Autorin, Übersetzerin und Dozentin in Berlin. Der Schulerfolg spiele eine große Rolle bei der künftigen Verteilung von Einkommen, sozialem Status und Prestige im Erwachsenenalter. "Nur wenn das Kind in der Schule gute Noten hat und später an einer Elite-Universität studieren kann, hat es auch gute Chancen gegenüber der sozialen Konkurrenz", sagt Strian. Eltern investierten daher lieber viel Zeit und Geld in die schulischen Leistungen ihrer Kinder - zum Beispiel in Form von Nachhilfekursen im Anschluss an die Schule - statt in deren Freizeitinteressen oder Hobbys wie Fußball.
Auch Chinas Ein-Kind-Politik, die mit wenigen Ausnahmen lange Zeit galt und erst 2015 aufgeweicht wurde, spiele eine Rolle. "Eltern und Großeltern neigen dazu, die Kinder übermäßig zu beschützen", sagt Hangkun Strian. "Sport zu treiben, gilt nach alter chinesischer Tradition als harte körperliche Arbeit. Beim Fußball besteht zudem eine hohe Verletzungsgefahr. Viele Eltern sind aber besonders vorsichtig, wenn es darum geht, dass ihr Kind Risiken eingeht." Härtere Sportarten wie American Football oder Boxen hätten es in China noch schwerer als Fußball, so die Sinologin: "Beliebte Sportarten sind in China eher solche, die ruhig und harmonisch sind, zum Beispiel Tischtennis oder Federball."
Angst vor Gesichtsverlust
Lars Isecke erkennt auf dem Fußballplatz eine weitere Folge der Ein-Kind-Politik: "Chinesinnen und Chinesen sind im Mannschaftssport nicht erfolgreich, weil sie nicht gelernt haben, als Team zu spielen", beschreibt er seine Erfahrung. Eine Familienstruktur, in der sich beide Eltern und dazu im Normalfall vier Großeltern auf ein Kind konzentrierten, fördere eben nicht selten auch egoistische Verhaltensweisen. Hinzu komme ein weiteres kulturelles Phänomen, das einem befreiten Aufspielen auf dem Fußballplatz oft im Wege stehe.
"Die Angst vor dem Gesichtsverlust ist in Asien sehr groß", sagt Isecke und beschreibt das daraus resultierende Verhalten so: "Wenn ich einen Fehler mache, verliere ich mein Gesicht in der Öffentlichkeit. Also mache ich besser gar nichts, dann kann ich auch nichts falsch machen." Auf dem Fußballplatz habe das mitunter bizarre Konsequenzen: "Die Spieler wollen den Ball gar nicht haben - egal ob Männer oder Frauen, Jugendliche oder Erwachsene. Sobald Ausländer im Team sind, passen sie denen den Ball zu und bieten sich selbst gar nicht mehr an."
Kaum Profis im Ausland
Wohl auch wegen dieser mangelnden Qualität, möglicherweise aber auch, weil die Bezahlung in chinesischen Vereinen sehr gut ist, spielen laut dem Internetportal "transfermarkt.de" derzeit nur sehr wenige Chinesen als Profis im Ausland: die größte Gruppe mit 17 Spielern in Spanien, allerdings keiner von ihnen in der Primera Division. Weitere zwölf Chinesen sind in Portugal beschäftigt, vier von ihnen bei Oriental Dragon FC. Da der Drittligist 2014 eigens zu dem Zweck gegründet wurde, chinesische Spieler unter portugiesischer Anleitung auszubilden, ist vier allerdings eine erstaunlich geringe Zahl.
Für Deutschland werden zehn chinesische Spieler aufgelistet, keiner davon in einer der drei Profiligen. Mit Wang Bowen und Li Xiancheng spielen zwei immerhin im Regionalliga-Team von Werder Bremen, sind aber beide keine Stammspieler.
Keine Nachhaltigkeit
Umgekehrt verpflichten Chinas Fußballverband und auch die Klubs der Superliga gerne ausländische Trainer, deren Expertise helfen soll, den chinesischen Fußball zu verbessern. Zwar lassen Verband und Vereine sich das einiges kosten, doch auch hier wird das volle Potential nicht ausgeschöpft. In die Ausarbeitung der Pläne, die meist von der CFA gemeinsam mit der staatlichen Sportverwaltung sowie dem Bildungsministerium verabschiedet werden, sind die ausländischen Experten sehr selten eingebunden. Oft kommt es daher vor, dass die in den Plänen veranschlagten Zahlen - zum Beispiel zur Trainerausbildung - sich mit dem tatsächlichen Pool an geeigneten Kandidatinnen und Kandidaten für eine Trainer-Pro-Lizenz nicht decken.
Umgesetzt werden sollen die Pläne trotzdem. Fällt dann irgendwann auf, dass unter dem Strich der sportliche Erfolg nicht stimmt, wird nicht im Detail geschaut, welche Stellschrauben im bestehenden System verändert werden müssen. Stattdessen werden meist die hochbezahlten Experten, die Nationaltrainer und zuständigen Funktionäre einfach ausgetauscht, und die nächsten Verantwortlichen müssen den nächsten Plan umsetzen. Nachhaltigkeit gibt es nicht.
Ex-Profis als Hoffnungsträger
Hoffnung macht Lars Isecke, dass der chinesische Verband nun eine Gruppe früherer Nationalspielerinnen und Nationalspieler gezielt fördert und wahrscheinlich im nächsten Jahr im Pro-Lehrgang ausbilden kann. Darunter ist mit Shao Jiyai, einst bei Energie Cottbus, ein ehemaliger Bundesliga-Profi sowie mit Zheng Zhi der langjährige Kapitän der Nationalelf, der früher in England und Schottland spielte. Durch ihren Status könnten sie langfristig zu den Veränderungen beitragen, die nötig sind, damit Chinas Fußball irgendwann auch international konkurrenzfähig wird.
"Beide haben im Ausland gespielt, sind weltoffen, sprechen Englisch und sind allgemein sehr wissbegierig", sagt Lars Isecke. "Aber am wichtigsten ist: Sie haben beide keine Angst, Fehler zu machen. Zudem könnten sie durch ihre Popularität Einfluss nehmen und dann auch an den entscheidenden Schrauben im System drehen."