Chinas NVK im Krisenmodus
21. Mai 2020Mit einer Verspätung von zweieinhalb Monaten tritt am Freitag der diesjährige Nationale Volkskongress (NVK), Chinas Scheinparlament, zusammen. Die beispiellose, der Corona-Epidemie geschuldete, Verschiebung dürfte der Parteiführung nicht leichtgefallen sein. Denn das regelmäßige Zusammentreffen der rund 3000 "Volksvertreter" ist als Zeichen für Stabilität und als Legitimierung der Parteiherrschaft enorm wichtig.
Aber der Corona-Ausbruch in Wuhan zur Jahreswende und die rasche Verbreitung des Virus hatten die Parteiführung kalt erwischt. Die Verschiebung der in China sogenannten "zwei Sitzungen", zusammen mit der Politischen Konsultativkonferenz, die am Donnerstag begann, war ein deutliches Symbol, dass die Führung doch nicht alles unter Kontrolle hat.
Umso wichtiger ist der ordnungsgemäße Ablauf der jetzt nachgeholten Sitzung, wenn auch unter Vorsichtsmaßnahmen. Es wird vermehrte Treffen von Arbeitsgruppen per Video geben und Pressekontakte per E-Mail. Aber aus symbolischen Gründen wird man wohl an der Auftaktversammlung der 3000 Delegierten in der Großen Halle des Volkes festhalten, sagt Kristin Shi-Kupfer vom China-Forschungsinstitut Merics in Berlin.
Abschied vom gewohnten Wirtschaftswachstum
China gilt weltweit als das Land, das als erstes von der Pandemie getroffen wurde und sie als erstes auch wieder in den Griff bekommen hat. Aber sicher ist nur eins: Bislang sind keine "neuen Wuhans" mit Tausenden Infektionen und Covid-19-Toten aufgetreten. Und damit das so bleibt, reagiert die chinesische Führung auch auf die kleinsten neuen Infektionscluster, wie aktuell in der nordöstlichen Provinz Jilin, mit harten Quarantäne-Maßnahmen.
Die haben naturgemäß Auswirkungen auf die wirtschaftliche Erholung des Landes, dessen Wirtschaftsleistung im April um über sechs Prozent geschrumpft ist - ein beispielloser Vorgang im "China der Nach-Mao-Ära". Vor diesem Hintergrund sind viele Fragen bezüglich der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen der Krise, und der entsprechenden politischen Maßnahmen, ungeklärt. Hierzu erwartet die chinesische und weltweite Öffentlichkeit gespannt Auskunft von der NVK-Sitzung, wo die zuvor getroffenen Beschlüsse der Parteiführung abgesegnet werden.
Dünner chinesischer "Schutzschirm"
Der Lockdown in China hat nach Einschätzung von Experten bis zu 30 Millionen Einwohner in ihrer wirtschaftlichen Existenz massiv getroffen: Die Wanderarbeiter in den Städten, die in die offizielle Arbeitslosenstatistik nicht einfließen, ebenso wie viele Kleinunternehmer und ihre Mitarbeiter. Von der Wiederherstellung der Kaufkraft und Nachfrage dieser Menschen hängt nach Einschätzung vieler Ökonomen der Wiederaufschwung der chinesischen Volkswirtschaft im großen Maß ab, und letztlich auch die der von der globalen Rezession getroffenen Weltwirtschaft.
Allerdings sind die bislang getroffenen Maßnahmen der chinesischen Führung zur Unterstützung von Unternehmen und Haushalten weit geringer ausgefallen als im Ausland. Sie belaufen sich laut "Economist" auf etwa drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), der Schutzschirm der Bundesregierung für deutsche Unternehmen entspricht etwa 15 Prozent des BIP.
Stimmungsbarometer aus der Kreativszene in Shanghai
Zwei Beispiele aus Shanghai zeigen, mit welchen Schwierigkeiten und Sorgen auch die vielgelobte kreative Mittelschicht Chinas infolge der Pandemie zu kämpfen hat - und dabei wenig Unterstützung vom Staat erhält. Der 32-jährige Boxtrainer Liang Guanghuo musste sein erst im September eröffnetes schickes Fitness-Studio in Shanghai nach dem Corona-Ausbruch von heute auf morgen schließen. Von einer bevorstehenden Aufhebung des Lockdowns habe er nie etwas gehört, so dass er und sein Geschäftspartner Mitte März beschlossen, das Geschäft aufzugeben und den Mietvertrag zu kündigen. "Das bedeutete für uns einen sofortigen Verlust von 300.000 Yuan an Investitionen. Wir mussten die Räume wieder als Büroräume herrichten, was weitere 50.000 Yuan kostete. Irgendeine finanzielle Unterstützung gab es nicht", erzählt Liang der DW, der umgerechnet insgesamt einen Verlust von 50.000 Euro erlitt.
Er beklagt, dass in Schwierigkeit geratene Staatsunternehmen ihre Mietzahlungen aussetzen durften, davon sei bei ihm und ähnlichen Unternehmen keine Rede, was er als "unfair" bezeichnet. Aber er glaubt, dass Fitness und Gesundheit nach der Pandemie eine noch größere Rolle spielen werden und seine Branche deswegen eine "brillante" Zukunft haben wird. Auf die baut er, bis dahin hält er sich mit Outdoor- und Online-Coaching über Wasser.
Unsichere Zukunft
Gao Fang, 29-jährige Möbeldesignerin mit einem Studium in Schweden, arbeitete bis zur Corona-Krise bei einem Unternehmen in Shanghai, das Lifestyle-Produkte für kaufkräftige Kundinnen anbietet. "Die Firma war aber schon vorher in wirtschaftlichen Schwierigkeiten, so dass meine Entlassung nicht so überraschend war", erzählt sie der DW. Ihre Branche hat sich nach ihrer Beobachtung wieder erholt, sie habe "nicht das Gefühl, dass es keine Jobs gäbe", aber sie habe noch nicht das richtige gefunden. Sie sucht eine Festanstellung, "möglichst bei einem global ausgerichteten Design-Unternehmen". Zurzeit ist sie bemüht, mit Arbeitslosenunterstützung und Freelance-Jobs über die Runde zu kommen. "Ich bin eigentlich ein optimistischer Mensch", sagt Gao, "aber ich fühle mich doch wie in einer Krise. Es gibt keine Garantie, dass alles wieder gut wird. Ich mache mir Sorgen, wie es sein wird, wenn ich lange Zeit keinen passenden Job finde."
Wie groß wird das "Stimulus-Paket" ausfallen?
Zwar hat Chinas Führung bei der Politbüro-Sitzung im April die Weichen für die Ankurbelung der Wirtschaft gestellt: Binnennachfrage und Konsumausgaben sollen gefördert und öffentliche Ausgaben verstärkt werden. Dazu soll die Defizitquote erhöht und spezielle Staatsanleihen ausgegeben werden, berichtet die SCMP.
Viele Ökonomen glauben aber, dass sich China auch aus Vorsicht angesichts der Unwägbarkeiten des weiteren Verlaufs der Pandemie mit einem massiven Stimulus-Paket wie nach der Finanz- und Bankenkrise 2008 zurückhält. So sei auch der Politbüro-Beschluss vom April zu lesen: "Stabilität hat erste Priorität. Wir müssen sicherstellen, dass es nicht zu einem Wiederaufleben der Epidemie kommt. Und wir müssen wirtschaftliche Stabilität und den notwendigen Lebensunterhalt der Menschen gewährleisten." Beobachter gehen deshalb davon aus, dass es gewisse Verbesserungen im schwach ausgebildeten sozialen Sicherungssystem Chinas geben wird.
Parteiziele und globale Abhängigkeiten
Ein Opfer der Corona-Krise könnte die heilige Kuh des offiziellen chinesischen Wachstumsziels sein, das sich nach der Öffnung unter Deng Xiaoping von zweistelligen Raten auf eine "neue Normalität" von rund sechs Prozent in den vergangenen Jahren eingependelt hatte. Nach Einschätzung der Internationalen Währungsfonds könnte Chinas Wachstum 2020 jedoch nur 1,3 Prozent erreichen - viel zu wenig, um das von Xi Jinping ausgegebene Ziel einer Verdoppelung der chinesischen Volkswirtschaft zwischen 2010 und 2020 zu erreichen.
Chinas Wachstum hängt allerdings nicht nur vom Binnenkonsum ab, ebenso wichtig ist die Nachfrage des Auslands. Hier bieten die Exportzahlen für April mit einem Plus von 3,5 Prozent zwar einen gewissen Lichtblick, nach einem Einbruch von 17,2 Prozent im Januar und Februar und von 6,6 Prozent im März. Stornierungen von Bestellungen aus den ebenfalls gebeutelten Handelspartnern könnten aber diesen Trend auch wieder umkehren, warnen Ökonomen.
Zu den Unwägbarkeiten der globalen Rahmenbedingungen zählt nicht zuletzt der weitere Verlauf des Handelskonflikts mit den USA, der sich verschärfen dürfte, je näher die US-Präsidentschaftswahlen rücken. Aber der NVK sei "kein Forum für strategische und außenpolitische Fragen", wie Mikko Huotari, Direktor vom China-Forschungsinstitut Merics, betont. Der Konflikt mit den USA werde dort nicht öffentlich erörtert. Die aktuellen globalen Spannungen würden die NVK-Sitzung beeinflussen, gehörten aber nicht zu ihren offiziellen Themen.