Sierens China
16. Juli 2014Während der gesamten Weltmeisterschaft, aber besonders zum Finale war China überall dort, wo es einen Fernseher oder Internetanschluss gab, in Schwarz-Rot-Gold gehüllt. Während in Deutschland ab 21 Uhr knapp 35 Millionen Menschen am Fernseher waren, schauten ab nachts um drei Uhr mehr als 100 Millionen Chinesen den deutschen Spielern zu. China hat mehr Fans des deutschen Fußballs, als Deutschland Einwohner. Denn die meisten fußballbegeisterten Chinesen sind Deutschlandfans.
Auch Chinas Premier hoffte auf Deutschlands Sieg
Selbst Chinas Premier Li Keqiang verriet Angela Merkel bei ihrem Staatsbesuch vergangene Woche, er wünsche sich, dass Deutschland den Pokal nach Hause bringe. Und das, obwohl China nach Brasilien der zweitwichtigste Handelspartner Argentiniens ist und Staats- und Parteichef Xi in den nächsten Tagen dorthin reist, um die Wirtschaftsbeziehungen zu vertiefen.
Offensichtlich Li ist die Stimmung im eigenen Land derzeit wichtiger als die außenpolitischen Strategie. Denn seit Montag (14.07.) hängen in den Schaufenstern bereits Poster mit deutschen Jubelszenen der Weltmeisterschaft. Auch Trikots mit dem vierten Stern konnte man wenige Stunden nach Abpfiff bereits kaufen. In den Onlineshops und den Straßenbuden gibt es natürlich nicht nur den Originaldress zu kaufen, sondern nach guter chinesischer Manier auch Fälschungen für etwa ein Zehntel des Originalpreises. Für die Händler war das Risiko gering, denn die fußballbegeisterten Chinesen sind schon seit Jahrzehnten auch große Fans der deutschen Bundesliga. Jeden Samstag werden Spiele der Liga in China übertragen und am Montag wird darüber diskutiert.
Unterstützung Südamerikas wäre politisch nützlicher
Woher kommt diese Deutschlandliebe? Denn eigentlich wäre es politisch gewünscht, dass die Chinesen zu Fußballnationen wie Brasilien oder Argentinien halten, mit denen Peking gemeinsamen die Spielregeln des Westens modifizieren will. So wie beim aktuellen Gipfel der BRICS-Staaten in Brasilia, wo Staats- und Parteichef Xi Jinping mit den anderen Staatschefs Alternativen zur Weltbank und zum internationalen Währungsfond vorantreibt.
Die Spielregeln des Westens sind für die Mitgliedsstaaten keine Option mehr. Wirtschaftlich will China nicht mehr die Werkbank der Welt sein und kann inzwischen auch teuer und High-Tech. Was China auch kann, ist Freunde gewinnen. Ob in Afrika, Südamerika oder mittlerweile auch in Osteuropa und in Nahost: Großzügige Investitionen und Finanzhilfen ohne politische Forderungen machen China zu einem gern gesehenen Partner.
Die chinesischen Fußball-Fans interessiert das wenig. Sie hielten und sie halten weiter zu Deutschland. Da ist selbst die chinesische Propaganda machtlos. Auch bei Luxusautos haben die Chinesen klare Vorlieben: Audi, BMW, Mercedes, Porsche. Und so kommen wir der Erklärung näher, warum der deutsche Fußball in China so wichtig ist. Die Chinesen sind fasziniert von der Präzision und der Innovation dieser Gemeinschaftsleistung. Bei Autos und anderen Maschinen ebenso wie beim Fußball. Denn "Vorsprung durch Technik" gilt auch für den deutschen Fußball. Und die Faszination ist umso größer, weil die Chinesen beides selbst bisher nicht können: Autos bauen und Fußball spielen.
Chinas Fußball ist weiter unerträglich
Die Spiele der lokalen Landesliga sind für einen deutschen Fußballfan unerträglich. Und die Chinesen haben sich das letzte Mal vor zwölf Jahren für eine Weltmeisterschaft qualifiziert. Damals erzielte das chinesische Team nicht ein einziges Tor. Die Vorrunde war Endstation. Deshalb blickt man zu den Deutschen auf.
Für die Mannschaften aus Afrika, mit denen China wirtschaftlich immer enger kooperiert und von denen sich manche mit grandiosem Fußball tapfer bis ins Achtelfinale schlugen, interessieren sich nur wenige Fans im Reich der Mitte. Russlands Mannschaft findet trotz Milliarden-Gasdeal in China keinerlei Anerkennung, auch wenn dies derzeit politisch sinnvoll wäre, wenn es darum geht den Europäern zu zeigen, dass China die Russen nicht im Stich lässt.
Die Mentalität des deutschen Fußballs passt einfach besser zu den Chinesen, als der Fußballstil Spaniens oder Italiens. Das zeigt sich besonders in schwierigen Zeiten. 1994 und 1998 schied Deutschland bereits im Viertelfinale aus, 2002 verloren sie das Finale gegen Brasilien und 2006 und 2010 wurde Deutschland jeweils Dritter. Die Chinesen hielten stets zu Deutschland. So lange China nicht selbst ein brauchbares Team auf die Beine stellt, wird die deutsche Mannschaft weiterhin hunderte Millionen Fans in Fernost haben. Würde Teammanager Oliver Bierhoff mit der Mannschaft und dem Weltmeisterpokal in diesen Wochen nach China reisen, wäre die Berliner Fanmeile gegenüber der Pekinger Fanmeile ein Dorffest.
Unser Kolumnist Frank Sieren gilt als einer der führenden deutschen China-Kenner. Er lebt seit 20 Jahren in Peking.