Aus einem Kind mach zwei
31. Juli 2015In China steht offenbar eine weitere Lockerung der Ein-Kind-Politik bevor. Die "China Business News" berichtete unter Berufung auf Regierungskreise, eine Regelung für eine Zwei-Kind-Politik könne bis zum Ende des Jahres realisiert werden. "Es gibt keinen Zeitplan für die Erlaubnis für alle Paare des Landes, zwei Kinder zu bekommen", teilte die Familienplanungsbehörde als Reaktion auf die Meldung mit, ohne jedoch den Plan für ein neues Gesetz zu dementieren.
Vor mehr als 35 Jahren verordnete die chinesische Führung ihrem Volk die Ein-Kind-Politik, um dem rasanten Bevölkerungswachstum Herr zu werden. Damit verbunden war eine umfassende Aufklärungskampagne. Kondome wurden verteilt, die Möglichkeiten für eine Abtreibung wurden vereinfacht. Das traurige Ergebnis: Schätzungsweise 300 Millionen Föten wurden nach Angaben des chinesischen Gesundheitsministeriums in den letzten 30 Jahren abgetrieben. Frauen wurden zwangssterilisiert oder zu Abtreibungen gezwungen. Wer dennoch ein zweites Kind bekam, musste empfindliche Geldstrafen bezahlen. Familien mit mehr als einem Kind wurden zudem Sozialleistungen, etwa Zuschüsse auf Arztkosten oder Rente, gestrichen.
Als Folge verlangsamte sich das Bevölkerungswachstum. "Nach chinesischen Statistiken hat sich die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau von vier bis sechs Kinder auf ein bis zwei Kinder reduziert", sagt Astrid Lipinsky, Sinologin an der Universität Wien. In China leben heute knapp 1,4 Milliarden Menschen. Ohne Ein-Kind-Politik wären es etwa 1,7 Milliarden, wenn man offiziellen Statistiken Glauben schenkt.
"China wird alt, bevor es reich wird"
Dafür zahlt das Land jedoch einen hohen Preis. Die Gesellschaft altert rapide. Schon seit 1999 definieren die Vereinten Nationen China als "alternde Gesellschaft". Damals überstieg der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung die Sieben-Prozent-Marke. 2050 werden knapp ein Viertel aller Chinesen älter als 65 Jahre sein, schätzen die Vereinten Nationen. Nach Angaben der Nationalen Statistikbehörde Chinas sank im Jahr 2012 die Zahl der Chinesen im erwerbstätigen Alter erstmals. Allein im vergangenen Jahr verlor China rund 3,7 Millionen Arbeitskräfte. Ein gewaltiges Problem für ein Land, dessen Wirtschaft noch im Aufstieg begriffen ist und dessen Gesundheits- und Rentensystem unterentwickelt ist. "China wird alt, bevor es reich wird", so drückten es Demografieforscher der Chinesischen Akademie der Wissenschaften aus.
Besonders auf dem Land werden traditionell männliche Nachkommen bevorzugt. Das führte dazu, dass weiblich Föten häufiger abgetrieben wurden. "Es gibt weniger Frauen, es gibt deutlich weniger Mädchen. 2014 kamen auf 116 neugeborene Jungen 100 Mädchen. Das heißt, da ist eine große Lücke", erklärt Astrid Lipinsky. Viele chinesische Männer - meist die Ärmsten - finden keine Ehefrau. Das führt dazu, dass auch in der nächsten Generation weniger Kinder geboren werden. Der Frauenmangel fördert zudem Menschenhandel und Prostitution.
Viele Lehrer und Erzieher in China beklagen zudem den zunehmenden Egoismus der vielen Einzelkinder, die besonders von den Großeltern nach allen Regeln der Kunst verwöhnt werden. Gleichzeitig ist der Leistungsdruck, den die Familie auf das einzige Kind ausübt, oft extrem. Eine Studie eines australischen Forscherteams stellte fest, dass Kinder, die nach Inkrafttreten der Ein-Kind-Politik geboren wurden, weniger selbstbewusst, risikoscheuer und pessimistischer sind, als jene, die davor geboren wurden. "Kleine-Kaiser-Syndrom" nennen das die Wissenschaftler.
Die negativen Auswirkungen der Ein-Kind-Politik hat die Staatsführung längst erkannt. Schon im November 2013 lockerte die Führung in Peking die Regeln. Seither dürfen Familien zwei Kinder bekommen, wenn ein Elternteil Einzelkind ist. Doch viel gebracht hat das offenbar nicht. Nach Angaben der Nationalen Gesundheits- und Familienplanungskommission beantragten im vergangenen Jahr etwa eine Million Paare die Erlaubnis für ein zweites Kind. Die Behörde hatte mit zwei Millionen Anträgen gerechnet.
Die Falle der niedrigen Geburtenrate
In China setzt sich ein Trend durch, der viele Industrienationen bereits erfasst hat. Ähnlich wie in Japan, Singapur, Hongkong oder Taiwan, aber auch in Westeuropa steigt die Zahl der kinderlosen Paare in China stark an. Ende der 1970er Jahre brachte eine chinesische Frau im Durchschnitt noch 4,22 Kinder zur Welt, 2014 waren es 1,4. Mittlerweile liegt der Anteil der chinesischen Haushalte ohne Kinder nach einer Untersuchung der Familienplanungskommission bei 40 Prozent. Besonders in den Städten wollen viele Paare nicht mehr als ein Kind. "Städtisches Leben, das wissen wir ja auch aus Westeuropa, ist einfach mit Kindern teuer und schwieriger zu organisieren", sagt Astrid Lipinsky. Das Ergebnis einer Internetumfrage des chinesischen Internetkonzerns "Sina" unterstützt diese These. 52 Prozent der 5000 Befragten gaben an, der ökonomische Druck sei zu hoch, um ein zweites Kind zu bekommen.
Im letzten Jahr warnte die Chinesische Akademie der Sozialwissenschaften, China drohe, in eine "Falle der niedrigen Geburtenraten" zu tappen, aus der das Land nur schwer wieder herauskomme. Fraglich ist, ob eine Zwei-Kind-Politik diesen Trend stoppen kann.