Chilly Gonzales: "Manchmal möchte ich Deutschland schütteln"
5. Juni 2014Deutsche Welle: Sie haben in Weltstädten wie Montreal, Toronto, Berlin und Paris gelebt. Jetzt leben Sie in Köln. Warum?
Chilly Gonzales: Köln ist das heimliche Zentrum Europas. Ich komme von hier in nur vier Stunden mit dem Zug überall hin - nach London, Paris, Amsterdam, Berlin, München oder Hamburg. Ich habe hier nicht nur das Gefühl, in Deutschland zu leben, sondern auch in Europa. Ich glaube fest daran, dass Europa ein Land ist und Deutschland eine sehr wichtige Provinz dieses Landes. So fühlt es sich einfach an, wenn man aus der Perspektive eines Kanadiers auf Europa schaut.
Wäre das, was Sie hier tun, in dieser Form auch in Kanada möglich?
Nein, ich habe hier ein viel größeres Publikum. Um all das, was ich in meine Musik stecke, herauszuhören, erfordert es ein gewisses Grundwissen über Musikgeschichte. Die klassische Musik wurde hier in Deutschland quasi erfunden. Es ist normal, dass die Leute hier mehr über klassische Musik und Philosophie, die Romantik, Expressionismus und all diese anderen wundervollen Dinge wissen. Wenn du in Kanada jemanden auf der Straße fragst, was er über Joseph Beuys, Felix Mendelssohn oder Arthur Schopenhauer weiß, wird er dir keine Antwort geben können. Aber genau diese Dinge stecken in meiner Musik. Sie sind mir bewusst, ich habe sie studiert, ich liebe sie. Natürlich kann man meine Musik auch ohne all das Vorwissen hören. Aber ich halte mich am liebsten dort auf, wo die Leute mein Werk verstehen. In Kanada bin ich nur der lustige Typ am Klavier, der mit berühmten Leuten spielt.
Der Blick des Außenseiters
Aber Ihr Werk entspricht auch nicht gerade dem typischen Bild von "E-Musik" hier in Deutschland.
Das stimmt, Ironie ist eher typisch für Kanada. Wir Kanadier denken, dass alle anderen besser sind als wir. Also versuchen wir, so viel wie möglich über die Kultur der anderen zu lernen. Wir sind sehr gut darin, im Exil zu leben und benutzen immer wieder Humor, um die Distanz zu den Dingen zu wahren. Ich als Kanadier kann vieles, was aus Europa kommt, mit einem gewissen Abstand bewerten. Manchmal würde ich Deutschland am liebsten schütteln und sagen: "Versteht ihr denn nicht, was ihr hier habt? Ich komme aus einem Land, wo es das alles gar nicht gibt! Also lernt es zu schätzen!" Ich biete meinem Publikum in Europa die Möglichkeit, durch meine Augen auf sich selbst zu schauen - durch die Augen eines Außenseiters.
Sie haben gerade unter dem Namen "Re-Introduction Etudes" eine Sammlung an Etüden herausgebracht. Im Mittelpunkt steht dabei der Spaß am Spielen. Früher war Klavierlernen eher mit Strenge und der richtigen Haltung verbunden.
Ich glaube, das liegt daran, dass viele Klavierlehrer frustrierte Musiker sind. Mein Großvater war so einer. Er wollte Konzertpianist werden, fuhr am Ende aber Taxi. Er hat mir das Klavierspielen beigebracht. Ich kenne diesen Typ Klavierlehrer nur zu gut, deshalb war mir immer sehr wichtig, nicht selbst ein frustrierter Musiker zu werden. Sie haben keine Freude mehr an der Musik und wollen auch nicht, dass junge Musiker sie fühlen. Sie konzentrieren sich auf das ewige "Mach es richtig". Mein Ziel ist es, den Leuten die Freude am Klavierspielen zurückzubringen.
Der Blick auf die Bausteine
Nach welchen Kriterien haben Sie die Stücke ausgewählt?
Meine Priorität bei der Auswahl war: Macht es Spaß, das hier zu spielen? Und hat man hiermit auch beim vierten und fünften Mal noch Spaß? In den Begleittexten erkläre ich, welche musikalischen Figuren ich benutze – eine Verzierung, ein Ostinato oder Arpeggien – all diese Bausteine, die heute noch immer im Radio zu hören sind. Das sind für mich natürliche Dinge, die das menschliche Ohr gerne hört. Also habe ich zu jedem dieser Bestandteile eine Etüde geschrieben. Das Buch ist nicht nur für Leute gedacht, die mit dem Klavier aufgehört haben und wieder anfangen wollen, sondern auch für Musiker, die endlich wissen wollen, wie der Kniff eigentlich heißt, den sie immer wieder verwenden.
Wann haben Sie Ihre Entertainer-Qualitäten entdeckt?
Als ich das Selbstvertrauen hatte, Leute mit dem Klavier unterhalten zu können. Ich könnte niemals Stand-Up-Comedy machen. Ich muss am Piano sitzen, ich mache Sit-Down-Comedy. Musik hatte für mich schon immer mit Humor zu tun. Ein Teil von mir will es immer noch nicht glauben, wenn ich in der Philharmonie 2000 klatschenden Leuten gegenübersitze. Ich glaube es erst, wenn ich einen Witz gerissen habe und die Leute lachen. Mein Bühnencharakter ist dazu da, mich zu befreien und mich sicher zu fühlen. Er beschützt mich.
Der Blick auf das Wesentliche
Sie halten Authentizität in der Musik für überschätzt. Warum?
Authentizität gibt es nur in den engsten menschlichen Beziehungen. Auf der Bühne existiert sie nicht. Man muss die Künstlichkeit der Bühnensituation verstehen und ehrlich mit ihr umgehen. Alle großen Künstler haben das getan. Frank Sinatra hat nie versucht, authentisch zu sein. Er war immer überlebensgroß. Aber da war etwas in seiner Stimme, das eingestanden hat: Das alles hier ist künstlich. Und nur so können wir als Menschen überhaupt kommunizieren. Sonst würden wir uns ja nur mit unseren engsten Freunden austauschen. Im Alltag können wir aber nicht einfach so drauflosheulen, wenn uns danach ist. Wir müssen andere Wege des Ausdrucks finden. Und dafür ist Kunst da. Kunst ermöglicht Kommunikation ohne Wahrhaftigkeit. Wenn es heißt: "Beethoven spricht mit der ‘Ode an die Freude' für uns alle", dann denkt doch niemand ernsthaft, dass Beethoven Gedanken lesen konnte. Er wusste aber, wie er Gefühle auf eine wiedererkennbare Weise vermitteln kann.
Wenn du dich gegen das Künstliche in der Kunst wehrst, dann leidet meiner Meinung nach ihre Qualität. Manche Singer/Songwriter wollen ganz sie selbst auf der Bühne sein, aber das geht nicht. Am Ende sind sie die Verlierer, weil sie den Kunstgriff nicht respektieren. Es wird problematisch, wenn du dein Publikum nicht achtest. Jazzer und klassische Musiker sagen oft: Wenn die Leute nicht mögen, was ich tue, ist das ihr Problem. Ich sage: Wenn die Leute nicht mögen, was du tust, ist es dein Problem. Wenn du von vorneherein davon ausgehst, dass die Leute keinen Geschmack haben, dann hast du keine Karriere verdient.
Halten Sie denn zu allem diese analytische Distanz, oder gibt es einen Teil der Musik, der Ihnen ganz nah ist?
Mal ehrlich: Es macht einen nicht reich, 35-jährigen Hipstern das Klavierspielen beizubringen. Ich mache das aus Leidenschaft und weil ich diese Leidenschaft auch bei anderen Menschen sehe. Dieses Buch repräsentiert auch den Teil der Musik, der für mich rein ist - der mir Freude bringt und mir das Leben gerettet hat. Der mir einen Ort gibt, an dem ich meine Schwierigkeiten, meine Aktivität ausleben kann. Der es mir ermöglicht, gewisse Gefühle zu verarbeiten. Statt sie zu bekämpfen oder zu verdrängen, haue ich sie ins Klavier.
Das Gespräch führte Philipp Jedicke
Chilly Gonzales komponierte mit "Never Stop" einen Welthit für eine Computerfirma, ist Weltrekordhalter im Dauerklavierspielen und schrieb Songs mit so unterschiedlichen Künstlern wie Daft Punk, Feist und Drake. Dazu gilt der Grammy-Gewinner als großer Entertainer. Lange Zeit lebte der aus Montreal stammende Musiker in Berlin und Paris, wo er gemeinsam mit seinen Landsleuten Peaches und Mocky eine Art kanadische Musikerenklave bildete. Inzwischen ist er ins vergleichsweise beschauliche Köln gezogen.
Gonzales' Etüden-Sammlung "Re-Introduction Etudes" ist am 2. Juni als dreisprachige Ausgabe (Englisch/Französisch/Deutsch) beim Verlag Gentle Threat Ltd. / Editions Bourgès R im Vertrieb von Indigo erschienen.