Charismatisch und unerbittlich: Kurt Masur
20. Dezember 2015Durch einen Dirigier-Kurs wurde Kurt Masur auf Adrian Prabava aufmerksam. Die Arbeit des Indonesiers gefiel ihm so gut, dass er ihn nach dem Abschlusskonzert des Kurses einlud, sein musikalischer Assistent beim Orchestre National de France in Paris zu werden. Von 2006 bis 2008 hat Prabava Masurs Arbeit aus nächster Nähe begleitet.
DW: Wie haben Sie Kurt Masur erlebt?
Adrian Prabava: Ich habe Kurt Masur zum ersten Mal 1997 getroffen. Als Student habe ich damals in einem Jugendorchester auf einem Festival in Verbier in der Schweiz mitgespielt - und er kam und hat uns dirigiert. Ich war damals Stimmführer der zweiten Geige. Wir waren von seinem Charisma und seiner Ausstrahlung begeistert - gleichzeitig aber auch von seiner Unerbittlichkeit. Er wollte von uns alles verlangen. Schon da habe ich gedacht: Wenn ich die Gelegenheit hätte, möchte ich diesen Dirigenten gerne besser kennenlernen. Deshalb habe ich mich sehr gefreut, dass er mich nach Paris eingeladen hat.
Als ich dorthin kam, war ich zuerst überwältigt davon, dass ich ihm assistieren durfte. Ich komme ursprünglich aus Jakarta und für mich waren Kurt Masur und das Gewandhausorchester schon seit jungen Jahren ein Begriff. Sie waren wie eine großartige Symbiose. Wir haben den zweiten Akt von Richard Wagners Oper "Tristan und Isolde" erarbeitet, auch das Ende vom dritten Akt. Im zweiten Akt durfte ich das Fernorchester dirigieren. Schon bei der ersten Probe habe ich gemerkt, dass er ein Perfektionist war.
Was hat ihn zum Perfektionisten gemacht?
Wir mussten alle möglichen Parameter in der Partitur so perfekt realisieren, dass die Intention des Komponisten am Ende richtig herausgestellt wird. Das ist etwas, was bei ihm sehr stark war: wie er sich mit den Stücken auseinandergesetzt hat. Er beschäftigte sich auch mit den Umständen der Leben der Komponisten, um zum Kern der musikalischen Aussage zu finden. Deshalb verlangte er von uns Vieles, damit wir nicht nur an der Oberfläche hängen bleiben. Im zweiten Akt von "Tristan" gab es eine Stelle, wo ich von der Hinterbühne mit meinem Orchester antworten musste. Die Übertragung war schlecht. Dann kam Kurt Masur und forderte einen Monitor, den es allerdings nicht gab. Und als ich sagte, dass ich es vielleicht ohne Monitor schaffe, sagte er: "Kein Risiko! Es muss am Abend perfekt laufen." Er hatte absolut recht. Am Ende musste er gegenüber den Technikern ein bisschen lauter werden, um einen Monitor zu bekommen. Wenn es um Qualität ging, kannte er keinen Kompromiss.
Kurt Masur wird zugeschrieben, die damals demoralisierten und autoritätsscheuen New Yorker Philharmoniker mit eiserner deutscher Disziplin und Bodenständigkeit erneuert zu haben. Was war das Geheimnis seiner Autorität?
Seine Autorität war keine, mit der er sein Ego pflegen wollte. Er hatte eine Art natürliche Autorität, die sowohl der Musik als auch dem Komponisten diente. Jeder Musiker konnte das sofort nachvollziehen. Er sagte nicht: "So muss es gemacht werden, weil ich das so haben will." Sondern: "So muss es gemacht werden, weil die Musik das verlangt." Das hat mir sehr imponiert. Bei dieser "Tristan"-Probe haben wir sehr lange an zwei Takten gearbeitet weil er eine bestimmte Klangfarbe erzielen wollte. Nach zehn Minuten war die Klangfarbe immer noch nicht da. Dann hat er weiter geprobt. Zu diesem Zeitpunkt glaubte niemand mehr, dass diese ganz bestimmte Klangfarbe realisierbar war. Dann, nach 14 Minuten, entstand plötzlich ein neuer Klang. Jeder, der in dem Raum saß, der da mitgespielt oder zugehört hat, hat es gemerkt: Das war eine Meisterleistung! Er hat ganz genau gewusst, wie seine Idee zu verwirklichen war und hat nicht nachgegeben. So etwas spüren die Musiker: "Das ist jemand, der für etwas kämpft." Dann sind sie auch bereit, alles zu geben.
Die Liste der Preise, Ehrungen und Auszeichnungen, die Kurt Masur erhalten hat, ist lang. Wie stand er zu der öffentlichen Anerkennung seines Wirkens?
Durch diese Anerkennung hat er ein gewisses Gewicht gewonnen, um über die Dinge zu sprechen, die ihm wichtig waren. Zum Beispiel hat er immer dafür gekämpft, dass die Musik eine wichtigere Rolle im Alltag in Deutschland spielen soll. Einmal, nach einer Aufführung von Bruckners Dritter Sinfonie mit dem Gewandhausorchester, hat er sich zu dem Publikum gewendet - es war eine Generalprobe mit vielen Schülern - und sagte: "Wir brauchen mehr Musik! Das Wichtigste ist, dass ihr selber Musik macht!" Er wusste, dass er anerkannt war und dass seine Stimme deshalb gehört wurde. Dies hat er auch genutzt, um gewisse Dinge anzusprechen.
Sie haben Kurt Masur als einen Ihrer Mentoren beschrieben. Wie beeinflusst er jetzt noch Ihre Arbeit?
Die Intensität, mit der er ein Stück verteidigte, hat mich sehr geprägt. Er war nie zufrieden, dass jemand nur die Noten spielt. Wenn einer die Musik nicht ernst nahm, wenn man nicht alles, was man hat, in diese Musik investierte, konnte er sogar böse werden. Bloßer Schönklang hat ihn auch nie interessiert. Er war immer auf der Suche nach der Wahrheit, die dahinter steckt. Für mich bleibt das wie ein Motto. Das werde ich natürlich nie vergessen.
Adrian Prabava (43) wurde in Indonesien geboren. Er studierte Violine an der Hochschule für Musik Detmold und anschließend Dirigieren bei Eiji Oue an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Zudem besuchte er Meisterklassen bei Jorma Panula, der neben Kurt Masur und Bernard Haitink ein wichtiger Mentor für ihn wurde. 2005 gewann Prabava den zweiten Preis beim renommierten "Concours International de Jeunes Chefs d'Orchestre de Besançon". Von 2006 bis 2008 war Kurt Masurs musikalischer Assistent beim Orchestre National de France in Paris.
Das Gespräch führten Rick Fulker und Laura Döing.