Rätselhaftes Massensterben in Russland
6. Oktober 2020Die Behörden in der ostrussischen Stadt Petropawlowsk-Kamtschatskij warnen vor einem Besuch des nah gelegenen Chalaktyrskij-Strandes. Surfer hatten mehrfach von Kopfschmerzen, Fieber und Übelkeit oder sogar teilweise vom Verlust ihres Sehvermögens nach dem Schwimmen berichtet.
"Ich bemerkte, dass das Meer einen seltsamen Geschmack hatte und nicht so roch, wie sonst. Meine Augen taten weh, ich hatte einen trockenen, kratzenden Hals und mein Körper juckte höllisch", berichtet Anton Morozov, Gründer der örtlichen Surfschule Snowave, der DW. Er und sein Team hatten die ersten Symptome Anfang September. Erst später brachten sie die Beschwerden mit dem Meereswasser in Verbindung und meldeten dies den Behörden.
Seitdem verbreiten sich Bilder von am Strand liegenden toten Kraken, Robben, Seeigeln und Seesternen in den sozialen Medien. Strandbesucher erzählen, die toten Fische sähen aus, als wären sie gekocht worden.
Behörden untersuchen drei Ursachen
Die Behörden nahmen Wasserproben an den Stellen, wo laut Morozov bis Ende September eine "gelblich-grüne Flüssigkeit" entlang einer 20 bis 30 Kilometer langen Küstenlinie aufgetaucht war.
Die Ermittler untersuchen derzeit drei mögliche Ursachen der rätselhaften Umweltkatastrophe. Dazu gehören eine mögliche Verseuchung durch Giftmüll, ein Zusammenhang mitvulkanischen Aktivitäten in der Region und das natürliche Auftreten tödlicher Algenblüten, so der Gouverneur der Region Kamtschatka, Wladimir Solodow, auf einer Pressekonferenz am Montag. Auf einem auf Instagram veröffentlichten Video erklärt der Gouverneur: "Im Moment stellen wir fest, dass sich die Situation in den letzten Tagen deutlich verbessert hat."
Wie der Minister für natürliche Ressourcen der Region, Alexej Kumarkow, mitteilte ergaben bisherige Tests eine ungewöhnlich hohe Konzentrationen der Chemikalie Phenol, als auch Rückstände aus der Ölförderung im Wasser. Später dann zitierte die Nachrichtenagentur RIA Kumarkow mit den Worten, es sei unwahrscheinlich, dass die Verschmutzung vom Menschen verursacht worden sei. Und laut Umweltminister Dmitri Kobylkin seien bei Untersuchungen bisher nur leicht erhöhte Eisen- und Phosphatwerte festgestellt worden. Der Vorfall könnte möglicherweise auch durch Stürme ausgelöst worden sein, die bis vor kurzem noch in der ostrussischen Region wüteten.
Wenig weist auf eine Ölkatastrophe hin
Wie der Umweltschützer und Leiter der lokalen Nichtregierungsorganisation Sakhalin Environmental Watch, Dmitry Lisitsyn, der DW berichtet, gibt es keine sichtbaren Anzeichen von Öl auf der Wasseroberfläche. Die tot aufgefundenen Tiere, die sonst am Meeresboden leben, seien üblicherweise eher selten als erste von Ölverschmutzungen betroffen, so Lisitsyn. "Erdöl ist leichter als Wasser - es bildet sich ein Film auf der Wasseroberfläche, der vor allem Vögel tötet. Es ist nicht giftig genug, um eine so große Menge an Tieren zu töten".
Eine Ölkatastrophe ist eigentlich "deutlich erkennbar", sagt auch Nicky Cariglia, unabhängige Beraterin für Meeresverschmutzung. Obwohl es in einigen Fällen möglich sei, dass Tiere, die auf dem Meeresboden leben, durch das Auslaufen von sehr leichtem Öl getötet werden, schwimme Öl üblicherweise auf der Wasseroberfläche. "Das erste, was man bei einem Ölunfall sieht, ist das dort Öl ist - sei es Rohöl oder Bunkeröl oder sogar noch leichtere Ölsorten", so Cariglia zur DW.
Auch eine hohe Konzentration von Phenol im Wasser sei keine abschließende Erklärung, sagt Cariglia. "Hohe Phenolkonzentrationen können auch durch ablaufendes Wasser vom Land ins Meer eingetragen werden - beispielsweise, wenn es viele Waldbrände gegeben hat - oder durch gefährliche Algenblüten oder auch durch sich zersetzende andere organische Substanzen."
Umweltschützer Lisitsyn ist überzeugt, dass die Wasserverschmutzung mit einem Leck an jahrzehntealten Tanks mit längst abgelaufenem Raketentreibstoff zusammenhängt. Die Tanks stehen auf auf der Militärbasis Radygino, zehn Kilometer vom Chalaktyrsky-Strand entfernt.
"Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Abfallcontainer Lecks haben, vielleicht sind die Tanks gerissen und eine große Menge Raketentreibstoff ist ins Meer geflossen", so Lisitsyn zur DW.
Mehr Untersuchungen nötig
Er mutmaßt, dass die giftige Flüssigkeit während eines Zyklons, der am 9. September auf die Region traf, in den Ozean gespült worden sein könnte. Nun liege es an den Behörden, eine gründliche Untersuchung zu den Ursachen der Verseuchung einzuleiten, dazu gehöre auch festzustellen, ob weiter Flüssigkeit austrete.
"Der Militärstützpunkt muss untersucht werden, auch die Container und alle Wasserwege, die ins Meer führen", so Lisitsyn. Denn Komponenten des Raketentreibstoffs seien krebserregend. Wenn sie unkontrolliert in den Ozean gelangten, könnte das Langzeitfolgen haben, nicht nur für die Meeresbewohner.
"Für Menschen sind sie sehr gefährlich. Ich würde nicht empfehlen, an diesem Strand spazieren zu gehen und die Dämpfe dort einzuatmen."
Berichterstattung mit Unterstützung des DW-Studios in Moskau
Adaption: Tim Schauenberg