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Cannabis für alle?

Lisa Duhm / Nicolas Martin5. März 2015

Cannabis als Medikament? Wirkt. Doch nur wenige Patienten in Deutschland dürfen es über die Apotheke beziehen. Nur mit Ausnahmegenehmigung und auf eigene Kosten. Das könnte sich jedoch bald ändern.

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Symbolbild Kiffen (Foto: dpa).
Bild: picture-alliance/dpa/Leukert

Unkontrolliertes Schmatzen, Spucken, zuckende Schultern und ein ständig wackelnder Kopf - jahrelang war Lars Scheimann stark verhaltensauffällig. Mit sieben Jahren hatten die Ärzte bei ihm das sogenannte Tourette-Syndrom diagnostiziert. "Das ging so weit, dass ich meinen Kopf gegen die Wand gerammt habe", erzählt der heute 44-Jährige. Harte Medikamente waren lange sein stetiger Begleiter - ein Joint auf einer Party brachte für ihn dann die Wende. "Schon nach zehn Minuten habe ich gemerkt, dass die Ticks nachließen."

Damals war Scheimann 22. Seitdem kifft er regelmäßig. Cannabis ist für ihn Medizin, und er kämpft für sein Recht darauf. Er war der erste Cannabispatient Deutschlands und darf seit sechs Jahren mit einer Ausnahmegenehmigung Marihuana-Blüten in der Apotheke kaufen. 75 Euro kostet ein Paket mit fünf Gramm Gras. Daraus dreht sich Scheimann circa 20 Joints am Tag. Andere Medikamente braucht er nicht mehr. Bezahlen muss er für seine Tagesrationen selbst, denn die Krankenkassen in Deutschland kommen bisher dafür nicht auf. "Ich arbeite eigentlich fast nur, um mich mit Medizin zu versorgen", sagt er.

Wheed

Rätsel Cannabis

Cannabis ist die meistkonsumierte illegale Droge in Deutschland. Während der Freizeitkiffer vor allem auf die entspannende Wirkung setzt, untersuchen Wissenschaftler den Stoff und seine Wirkung mittlerweile sehr genau. Cannabis besteht vor allem aus Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD), aber auch noch etwa 600 weiteren Substanzen - deren Zusammenspiel bis heute noch nicht genau bekannt ist. THC regt zum Beispiel die Psyche an, CBD deutlich weniger.

Nachweislich positive Effekte hat der Einsatz von Cannabis bisher vor allem bei chronischen Schmerzen. Der Mediziner Franjo Grothenhermen ist Autor des Buches "Hanf als Medizin" und setzt bei seinen Behandlungen auf Cannabis: "Das Spektrum ist sehr groß." In seiner Praxis behandelt er Übelkeit und Appetitlosigkeit bei Krebs, HIV oder Hepatitis C mit Cannabis. Auch Erkrankungen wie Multiple Sklerose oder das Tourette-Syndrom, wie im Falle von Lars Scheimann. In den USA werden seit Jahren auch posttraumatische Belastungsstörungen von Kriegssoldaten behandelt.

Junge Forschung

Die Neurologin Hertha Flor vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit an der Uni Heidelberg hat Cannabis in einem Versuch bei chronischen Erkrankungen eingesetzt. Eine sehr niedrige Dosis wurde in Tropfenform den Patienten während ihrer Therapieeinheiten verabreicht. "Schmerzgedächtnisspuren, die sich im Gehirn gebildet haben, wollten wir mit Cannabis wieder rückgängig machen", erzählt die Forscherin. Der Versuch dauerte drei Monate. Am Ende waren die Patienten mit Cannabis weiter als die mit einem Placebo und ohne jegliche Hilfsmittel. "Erst in den letzten fünf Jahren beschäftigt sich die Forschung verstärkt mit dem Thema", so Flor. Bisher habe es sehr viele Vorbehalte in der Bevölkerung und der Politik gegeben.

Wenig Nachweise

Gegner von Cannabis verweisen vor allem auf die sehr dünne Studienlage. Bei Spastiken, Schmerzen, Appetitlosigkeit und Erbrechen gebe es ausreichend Daten. "Danach hört es sehr schnell auf", sagt Franjo Grothenhermen. Aktuell arbeiten Mediziner in den USA an einem neuen Cannabis-Spray für Krebspatienten. "Die Patientengruppen sind meistens sehr klein, deshalb rechnen sich aufwändige klinische Studien nicht", so der Cannabis-Experte.

Infografik Cannabis auf Rezept (Grafik: DW).
In nur wenigen Ländern weltweit gibt es Cannabis auf Rezept

Als eingetragener Arzt darf Grothenhermen in Deutschland entweder Cannabis-Tropfen oder ein THC-CBD-Spray verschreiben. Wollen die Patienten den Stoff lieber rauchen, müssen sie einen aufwendigen Prozess durchlaufen. "Ich habe alles an Psychopharmaka getestet, was auf dem Markt war", sagt Lars Scheimann. "Ich war nicht mehr der Lars - ich war dick, gedanklich kaputt und habe keinen Fuß vor den anderen gesetzt bekommen." Erst als er nachweisen konnte, dass die klassische Medizin ihm keine Linderung verschaffte, erhielt er eine Sondergenehmigung. In Deutschland gibt es mittlerweile 370 Menschen mit einem solchen Status. Sie bekommen ihr Gras in der Apotheke.

Abhängige Patienten?

"Wir versuchen bei der Medikation natürlich unter einer gewissen Schwelle zu bleiben", sagt der Mediziner Grothenhermen. "Der Patient bekommt erst mal kleine Mengen, die ihn nicht beeinträchtigen. Danach gewöhnt sich der Körper daran, und die psychologischen Effekte treten nicht mehr so auf." Auch Lars Scheimann hat seinen Konsum langsam gesteigert. Seit vielen Jahren habe er sich aber nun auf fünf Gramm eingespielt. High wird er davon nicht mehr. Dennoch habe Cannabis auch in der Medizin ein gewisses Abhängigkeitspotential, so Grothenhermen.

Wie bei jedem anderen Medikament, müsse man bei der Verschreibung eine Nutzen-Risiko-Abwägung durchführen. "Aber heute sind wir da weiter als in den 70er Jahren. Damals sind Krebspatienten unter starken Schmerzen gestorben." Wegen der Abhängigkeitsgefahr habe man ihnen kein Morphium gegeben. "Das ist Schwachsinn - heute bekommen Schmerzpatienten Opiate, wenn sie die brauchen."

Auch der Präsident der Deutschen Schmerzgemeinschaft, Michael Schäfer, schätzt die Abhängigkeitsgefahr beim therapeutischen Einsatz als relativ gering ein, wenn der Wirkstoff über einen möglichst langen Zeitraum gleichmäßig in das Blut abgegeben wird. Im Interview mit der "Ärzte Zeitung" warnt er aber vor einem Einsatz bei Jugendlichen. Hier müsse man sehr vorsichtig sein, "da hier wirklich psychische Reaktionen wie Persönlichkeitsstörungen auftreten können". Das Gros der Patienten sei deutlich im fortgeschrittenen Alter, so Schäfer.

Unentschlossene Politik

Lars Scheimann hat Cannabis zum Beruf gemacht. Er ist heute Geschäftsführer eines Hanf-Ladens in der Duisburger Innenstadt. Hier verkauft Scheimann eigens entwickeltes Hanf-Tierfutter und etliche andere Artikel auf Basis von Nutz- und Faserhanf. Die Produkte wie Spagetti, Schokolade und Pesto enthalten aber kein THC - Scheimann geht es um die vielen Nebenbestandteile von Hanf, wie Omega-Fettsäuren. "Mittlerweile kommen Menschen aus allen Gesellschaftsschichten in den Laden", erzählt er. Scheimann baut den minimal THC-haltigen Nutzhanf für sein Tierfutter auf Feldern in Luxemburg an. Trotz der Einnahmen aus dem Laden, sind die mehr als 2000 Euro monatlich für das medizinische Cannabis schwer zu stemmen. Er und mehrere andere Cannabispatienten klagen deshalb vor deutschen Gerichten. Sie wollen erreichen, dass sie Gras selbst anbauen können.

Da der deutsche Staat es aber vermeiden möchte, dass in etlichen Wohnungen legal Gras angebaut wird, kommt er den Cannabis-Patienten wahrscheinlich entgegen. So hat die Drogenbeauftragte Deutschlands bereits ein Gesetz angekündigt, nachdem Cannabis-Patienten das Geld für ihre Medizin von den Krankenkassen zurückerhalten sollen. "Deutschland ist im guten Mittelfeld", sagt Grothenhermen über die Rahmenbedingungen von Cannabis in der Medizin.

Cannabis Lars Scheimann

Länder wie Israel und Kanada seien bei der therapeutischen Nutzung bereits wesentlich weiter. In einigen Bundesstaaten der USA, Niederlande und Uruguay ist Cannabis mittlerweile sogar komplett legalisiert. Hier hat der Gras-Boom schon etliche zu Millionären gemacht. Seine Medizin bezahlt zu bekommen, wäre für Lars Scheimann ein großer Erfolg. Den Plan, Gras-Millionär zu werden, verfolgt er nicht: "Ich bin ja schon so reich, weil ich meine Gesundheit zurück habe und wieder ein normales Leben - ohne Ticks - führen kann."