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Bundestagsmandat für vier Tage

Kay-Alexander Scholz13. Juni 2012

Manche Jugendliche verbringen ihre Freizeit damit, Rollenspiele am Computer zu spielen. Andere spielen Politik im Berliner Reichstag und dürfen ein paar Tage lang alles, was sonst nur die gewählten Volksvertreter tun.

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Jugendliche sitzen im Bundestag in Berlin in den Reihen der SPD-Fraktion (Foto: picture-alliance/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

"Mr. Gorbatschow, tear down this wall - auf den Tag genau vor 25 Jahren sagte der damalige US-Präsident Ronald Reagan diesen historischen Satz nur wenige Meter entfernt", erinnerte Bundestagspräsident Norbert Lammert. Ehrfurcht ergriff die Gesichter der 300 Mädchen und Jungen im Plenarsaal des Berliner Reichstags. Auch wenn Politik für sie in den letzten vier Tagen nur ein Spiel gewesen sei, so Lammert, brauche es dazu doch viel Mut und Entschlossenheit. "Welche Zukunft stattfindet, dass ist die Frage, die Sie beantworten müssen, denn es ist Ihre Zukunft.".

"Die Hütte gehört jetzt euch"

Viele Jugendliche gebe es derzeit nicht, die sich diesen Fragen stellten, berichten die Teilnehmer der Veranstaltung "Bundestagsmandat für vier Tage" . Sie stammen aus dem gesamten Bundesgebiet und wurden vom Bundestagsabgeordneten ihres Wahlkreises für das Spiel nominiert. "In meiner Altersstufe bin ich die einzige von 80 Leuten, die politisch aktiv ist", sagt die 18-jährige Gloria aus dem Wahlkreis Pforzheim. Der 17-jährige Theo aus Hamburg erzählt, dass in seiner Schulklasse kaum mehr jemand wisse, wer Helmut Schmidt sei, der Ex-Kanzler der Bundesrepublik von 1974 bis 1982.

Die Teilnehmer jedenfalls waren 150-prozentig bei der Sache. "Die Hütte gehört jetzt euch", hatte ihnen Lammert etwas salopp zur Begrüßung mit auf den Weg gegeben. Diesem Aufruf folgten die Nachwuchspolitiker mit viel Leidenschaft und Energie.

In der fremden Partei

In einem Rollenspiel durften die 16- bis 20-Jährigen die Abläufe im Bundestag simulieren. Dafür erhielten sie per Losverfahren eine fiktive Identität mit Namen, Alter und Herkunft samt Zugehörigkeit zu einer von fünf Parteien. Wer Pech hatte, wurde so Mitglied einer Partei, der er im realen Leben nicht viel abgewinnen kann. In den ersten beiden Tagen sei es manchem schwer gefallen, in seine Rolle zu schlüpfen, erzählt der 19-jährige Frederick aus Augsburg. Doch schon an Tag drei hätten sich die Jugendlichen nur noch mit ihrem Spielnamen angesprochen. Gloria erzählt schmunzelnd, dass bei den Sitzungen so mancher eigentliche FDP-Nachwuchspolitiker Argumentationslinien der Grünen-Partei derart gut verteidigt hätte, dass sie nur staunen konnte. Er hätte auch schon mit jemandem gesprochen, der seine private Parteienpräferenz nun dank der Spielerfahrung ändern wolle, verrät Frederick.

Jugendliche sitzen im Plenarsaal des Bundestages in Berlin in den Reihen der im Bundestag vertretenden Fraktionen (Foto: picture-alliance/dpa)
Die fiktiven Parteien orientierten sich an den wirklichen Parteien im BundestagBild: picture-alliance/dpa

Die Teilnehmer bekamen vier Gesetzesvorlagen auf den Tisch, die sie - wie im normalen politischen Alltag auch - in Fachausschüssen beraten und in der eigenen Fraktion diskutieren sollten. Die Gesetze betrafen die Themen Datenschutz im Internet, diskriminierungsfreie Bewerbungen, PKW-Maut und Pflegezeit für Familienangehörige - also alles jugendnahe und aktuelle Fragen. Die Themen legte die Bundestagsverwaltung fest, die das Politik-Spiel seit 2004 jährlich organisiert. Ein halbes Dutzend ihrer Mitarbeiter verfolgte das Geschehen als Spielmaster und Berater.

Voll bei der Sache

Den Höhepunkt bildete eine fiktive Bundestagssitzung, bei der über die Gesetze nach jeweils halbstündiger Diskussion mit vielen Redebeiträgen abgestimmt wurde. Währenddessen kamen wie an normalen Sitzungstagen auch Schulklassen auf die Besuchertribünen, um das Geschehen im Plenarsaal zu verfolgen. Einige dachten zunächst, das sei eine echte Sitzung. Denn die Teilnehmer hatten sich vorher mit dem Prozedere derart gut vertraut gemacht, dass es keine Pannen oder Pausen gab. Auch die Redebeiträge waren im Prinzip nicht anders als sonst. Da wurde am Rednerpult verbal zugespitzt, über Applaus gesprochen, heftig gestikuliert und aggressiv argumentiert. Die Zuhörer in den Reihen im Saal klatschten, grölten und echauffierten sich. Nur wer genauer hinschaute, sah natürlich, dass die Abgeordneten jünger als sonst waren.

Der Jugendliche Jonas Mühle steht im Plenarsaal des Deutschen Bundestag in Berlin am Rednerpult (Foto: picture-alliance/dpa)
Reden wie die GroßenBild: picture-alliance/dpa

Eine erstaunlich professionelle Stimmung hatte auch schon bei den Fraktionssitzungen am Vortag geherrscht. Das lag nicht nur an der disziplinierten und erwachsenen Art des Auftretens der Teilnehmer, sondern auch am Repertoire, mit dem sie spielten. Da wurden per SMS Informationen informell ausgetauscht, der Fraktionsvorsitzende sollte Abstimmungsbündnisse mit anderen Parteien schließen und die - nicht echte - Presse bekam strategisch wichtige Informationen zugespielt. Beim bis in die Nacht dauernden Abendessen versuchten manche mit letzter Kraft, politische Gegner zu beeinflussen.

Enttäuschungen gehören zum Geschäft

Am Ende brachte das alles zwar nicht den gewünschten Effekt, denn bei der Abstimmung hielten sich die meisten Abgeordneten an ihre Fraktionsräson und Regierung und Opposition blieben verschiedener Meinung. Aber auch diese Lektion will gelernt sein, betonte der Bundestagspräsident in seiner Abschlussrede. "Ich hoffe, sie haben gemerkt, wie anstrengend das politische Tagesgeschäft sein kann", so Lammert. "Und dass es keine Wahrheit in der Politik gibt, sondern nur Mehrheiten für Entscheidungen, die vorher diskutiert werden."

Bundespräsident Norbert Lammert (Foto: dapd)
Bundestagspräsident Norbert LammertBild: dapd