Ein düsteres Afghanistan-Bild
6. März 2018Schon die Wortwahl lässt erahnen, wie es um Afghanistan steht. Bis Ende 2014 hießen die regelmäßigen Berichte der Bundesregierung zu Afghanistan "Fortschrittsberichte". Heute heißen sie schlicht Zwischenberichte oder, wie jetzt im aktuellen Fall, "Bericht der Bundesregierung zu Stand und Perspektiven des deutschen Afghanistan-Engagements". Das Wort Fortschritt taucht im Titel nicht mehr auf. Dafür gibt es auch keinen Anlass. Erfolge seien "unzureichend und brüchig", ist im Bericht zu lesen. Als Ziele der deutschen Afghanistan-Politik werden "die Reduzierung des Gewaltniveaus" und die "Minimierung der terroristischen Bedrohung" betont.
Ein düsteres Szenario
Der jüngste Bericht, der dem Berliner Hauptstadtbüro des nationalen öffentlich-rechtlichen Senders ARD zugespielt wurde, liefert auf 26 Seiten eine aktuelle Einschätzung der Sicherheitslage. Am deutlichsten werden die Verfasser aus dem Auswärtigen Amt auf Seite 20. Dort ist zu lesen, dass sich die Rahmenbedingungen für das zivile Engagement Deutschlands in Afghanistan seit dem Ende des NATO-Kampfeinsatzes im Dezember 2014 "deutlich verschlechtert" hätten:
"Kampfhandlungen, Anschläge und Entführungsgefahr erlauben Investitionen und Beratungsleistungen inzwischen nur noch unter strengen Sicherheitsvorkehrungen und erschweren ein langfristiges, an nachhaltigen Wirkungen orientiertes Engagement durch internationale Fachkräfte."
Das heißt im Klartext: Die Sicherheitslage ist so schlecht, dass eine effektive, zivile Hilfe nicht mehr möglich ist. Das Papier deutet an, dass sich die deutsche Hilfe derzeit auf "sichere und zugängliche Regionen" konzentriere. Welche das sind, bleibt unklar. Doch die meisten zivilen Aufbauhelfer aus Deutschland arbeiten in der Hauptstadt Kabul und in der nördlichen Provinzhauptstadt Mazar-i-Scharif - meist hinter hohen Sprengschutzmauern, abgeschnitten von der afghanischen Bevölkerung.
Die deutsche Botschaft in Kabul ist seit einem schweren Selbstmordanschlag im Mai 2017 zerstört. Derzeit sind der deutsche Botschafter und sein Team als Gäste in der US-Botschaft untergebracht. Auch das Generalkonsulat in Mazar-i-Sharif wurde bei einem Sprengstoffanschlag der Taliban im November 2016 so schwer getroffen, dass es nicht mehr genutzt werden kann. Seitdem leben und arbeiten die Mitarbeiter des Konsulats auf der deutschen Militärbasis Camp Marmal, genauso wie die Mitarbeiter der staatlichen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ).
Mangelnder Schutz für die militärischen Ausbilder
Der Bericht wirft ein besonderes Schlaglicht auf den Norden Afghanistans, der seit 2003 unter dem Schutz deutscher Soldaten steht. Derzeit hat die Bundeswehr maximal 980 Mann im Land stationiert. Doch "die sich verschärfende Bedrohungslage für internationale Kräfte auch im Verantwortungsbereich der Bundeswehr" machten es nötig, wieder mehr deutsche Soldaten nach Afghanistan zu schicken. Die Obergrenze soll auf bis zu 1300 aufgestockt werden. Auch Bundesaußenminister Sigmar Gabriel befürwortet das. "Die Sicherheitslage in Afghanistan ist mehr als schwierig", sagte Gabriel am Dienstag nach einem Treffen mit seinem türkischen Kollegen Mevlüt Cavusoglu in Berlin.
Derzeit kann die Bundeswehr "bis zur Hälfte" ihrer geplanten Ausbildungsarbeit für die afghanische Armee nicht leisten. Militärische Ausbilder der Bundeswehr werden bei ihrer Arbeit mit afghanischen Sicherheitskräften auch deshalb von bewaffneten Bundeswehrsoldaten geschützt, um zu verhindern, dass Auszubildende ihre Ausbilder angreifen. Und wenn die Bundeswehr nicht mehr nur auf der afghanischen Führungsebene ausbilde, sondern auch darunter, "brauchen wir mehr Kräfte, um die Sicherheit unserer eigenen Soldaten zu gewährleisten", sagte Gabriel.
"Strategischer Patt"
Um politische Versäumnisse geht es nicht. Der neue Bericht der Bundesregierung macht vor allem den schnellen Abzug der NATO-Kampftruppen Ende 2014 für das afghanische "Sicherheitsvakuum" verantwortlich. Erst seit Ende 2016 sei es den afghanischen Streitkräften mit internationaler Unterstützung gelungen, "die Stabilisierung eines strategischen Patts zu erreichen". Die afghanischen Soldaten und Polizisten hätten sich aus ländlichen Regionen zurückgezogen, um sich auf den "Schutz der Bevölkerungszentren" zu konzentrieren.
Die afghanischen Sicherheitskräfte stehen also so stark unter Druck, dass sie nicht das ganze Land gegen Aufständische und Terroristen verteidigen können. Sie geben ländliche Regionen auf, um in urbanen Zentren wie Kabul, Kandahar oder Kundus den Staat zu verteidigen. Dennoch werden die großen Städte immer wieder das Ziel schwerer Terroranschläge. Erst im Januar explodierte im Zentrum der afghanischen Hauptstadt ein Ambulanzwagen, der mit Sprengstoff gefüllt war. Mehr als 100 Menschen verloren ihr Leben, mehr als 200 wurden zum Teil schwer verletzt.
Mangelhafte staatliche Entwicklung
In den zurückliegenden fast 17 Jahren, seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001, sind Milliardenbeträge Richtung Kabul geflossen. Doch das Vertrauen der Afghanen in ihren Staat bröckelt. Die Regierung ist intern sehr zerstritten, was der Bericht der Bundesregierung allerdings nicht thematisiert. Ob die für Juli geplanten Parlamentswahlen stattfinden können, ist unklar. Sie sind schon mehrfach verschoben worden.
Aufschluss über Deutschlands Blick auf den afghanischen Staat bietet dieser Satz: Der Schutz der Menschenrechte werde „durch einen allgemeinen Scharia-Vorbehalt, eine fehlende Instanz zur einheitlichen Interpretation der Verfassung und ein allgemein schwaches Gerichtswesen beeinträchtigt".
Man kann es auch so formulieren: der Sturz des Taliban-Regimes im Spätherbst 2001 hat die Kultur der Straflosigkeit nicht beendet, sondern zementiert. Es gilt weiter das Recht des Stärkeren, es gibt keinen funktionierenden Rechtsstaat, dem die Menschen verlässlich vertrauen könnten. Rechnet man dann noch hinzu, dass das Wirtschaftswachstum seit dem Rückzug von mehr als 100.000 kämpfenden NATO-Soldaten Ende 2014 eingebrochen ist, erklärt sich der Massenexodus der Afghanen, der auch Deutschland unmittelbar betrifft.
Flucht und Migration
"Afghanistan ist weltweit eines der Hauptherkunftsländer für Flüchtlinge", hält der Report fest. Migrationsursachen seien "insbesondere eine unbefriedigende Wirtschaftsentwicklung und Korruption, die Sicherheitslage sowie ein hohes Bevölkerungswachstum". Auffällig ist, dass das fehlende Wirtschaftswachstum an erster und die fehlende Sicherheit erst an zweiter Stelle genannt werden. Deutschland sucht nach Wegen, um Abschiebungen nach Afghanistan weiter zu rechtfertigen. Flüchtlinge müssen geschützt werden, Wirtschaftsmigranten nicht.
In der Bundesrepublik halten sich nach offiziellen Angaben 250.000 afghanische Staatsangehörige auf. Davon sind knapp 15.000 ausreisepflichtig. Seit Dezember 2016 hat Deutschland 155 afghanische Männer abgeschoben. Abgeschoben würden derzeit nur Kriminelle und Menschen, die ihre Identität verschleierten. Unbeantwortet bleibt die Grundsatzfrage, ob man in ein Land, in dem Krieg herrscht, abschieben darf.
Fazit des Berichts
Der Bericht mahnt zur "strategischen Geduld". Er liefert kein Ausstiegsszenario. Deutschland muss sich darauf einstellen, sich noch lange in Afghanistan zu engagieren. Ein Abbruch "des militärischen oder zivilen Engagements könnte eine Kettenreaktion mit unkalkulierbaren Folgen" auslösen.
Bei einem Abzug steht alles zur Disposition, was in den vergangenen 17 Jahren erreicht worden ist. Es geht ganz grundsätzlich darum, eine Niederlage für die westliche Mission in Afghanistan abzuwenden.
Das neue Papier soll den Bundestagsabgeordneten dabei helfen, über die Zukunft deutscher Soldaten in Afghanistan zu entscheiden. Es wird auch den zuständigen Behörden als Grundlage dienen, wenn sie über die Anträge afghanischer Asylbewerber entscheiden. Derzeit liegt die Anerkennungsquote für afghanische Asylbewerber bei etwa 44 Prozent.