Bulgarien: Exil-Russinnen gegen Putin
23. März 2022"Meine Mutter unterstützt Putin. Das bricht mir das Herz", sagt Anna* aus Moskau. Die junge Russin hat das Moskauer Staatliche Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) absolviert. "Als 2014 die Invasion der Krim begann, waren meine Kommilitonen in Russland gegen die Annexion", sagt Anna im Gespräch mit der DW.
"Wir hatten aber große Angst, unsere Meinung zu äußern. Ich hatte damals schon zwei Ermahnungen von der Universität erhalten. Sie drohten, mich zu exmatrikulieren. Deshalb sagte ich nichts. Mir wurde klar, dass ich in Russland nicht mehr leben konnte. Ich war in der Minderheit. Auch die meisten meiner Freundinnen und Freunde haben Russland in den folgenden Jahren verlassen."
Im Jahr 2016 hatte Anna ein Stipendium in Deutschland. Danach kehrte sie kurzzeitig nach Russland zurück, sie hatte einen Job bei einer Firma in Moskau bekommen. Dauerhaft in ihrer Heimat bleiben wollte sie aber nicht mehr. "Das Leben in Moskau ist schön und man kann dort ein guter Konsument sein. Aber das Leben ist nicht nur Konsum, es gibt Prinzipien."
Die DW trifft Anna in Russe, einer Stadt an der Donau in Nordbulgarien. Hier besucht sie ihre Kommilitonin und Freundin Irina*, die ebenfalls aus Moskau stammt. Anfang März 2022 haben die beiden gemeinsam mit Kommilitonen und Professoren in Moskau einen Brief unterzeichnet, der die "Militäraktionen der Russischen Föderation auf dem Territorium der Ukraine verurteilt". Wenige Tage später, am 4. März 2022, trat in Russland ein neues Gesetz in Kraft, das die Veröffentlichung von "Fake News" über die Armee mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft. Alle, die wie Anna und Irina den Protestbrief unterzeichnet haben, riskieren also hohe Strafen.
Warum sind viele Russen für Putin?
Deshalb verließ Irina Russland und flog mit ihrem bulgarischen Freund über Istanbul nach Russe. "Ich bin vorübergehend hier und plane immer noch, nach Russland zurückzukehren", sagt sie der DW. Aber wann? "Vielleicht, wenn sich die Proteste gegen Putin und den Krieg ausbreiten, wenn mehr Menschen bereit sind, sich gegen das Regime aufzubäumen." Bisher aber genießen Putin und seine Regierung nach wie vor breite Unterstützung in Russland. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums, dem einzigen vom Staat unabhängigen Meinungsforschungsinstitut in Russland, lag die Zustimmung zum Präsidenten Ende Februar 2022 bei 71 Prozent.
Anna und Irina versuchen, die Ursachen dafür jenseits der üblichen Erklärungen zu finden. Also jenseits von Propaganda und Manipulation. "Es gibt Menschen, die das Regime unterstützen, weil es ihnen dadurch leichter fällt, die Geschehnisse zu akzeptieren", versucht Anna diese Haltung nachzuvollziehen. "Wenn Russland, das einst den Faschismus bekämpft hat, heute handelt wie ein faschistischer Staat - das kann man doch nicht akzeptieren! Da ist es beruhigender zu denken, dass das Land das Richtige tut und die Ukraine vom Faschismus befreit, anstatt der Wahrheit ins Auge zu schauen."
Rezept zur Unterwerfung
Die drei Hauptzutaten des Rezepts zur Unterwerfung der russischen Gesellschaft seien, so Anna, "staatlich kontrollierte Medien, Propaganda und gut bezahlte IT-Experten, die für die Regierung arbeiten". Die Propaganda in Russland funktioniere gut. "Ich bin Politikwissenschaftlerin und in drei Ländern - Russland, Deutschland und den USA - ausgebildet. Da ich auch über das Denken in Russland informiert sein möchte, höre ich den russischen Medien und dem Kreml genau zu. Und ich muss sagen, ihre Kriegspropaganda klingt überzeugend - wenn man nicht weiß, wie man Informationen überprüft, ist es leicht, die Version des Kremls über den Krieg in der Ukraine zu glauben."
Auch die meisten russischen Freunde und Kommilitonen von Irina und Anna, die den Krieg ablehnen und das Regime in Moskau kritisieren, haben ihre Heimat mittlerweile verlassen. Aber ihre Eltern, Großeltern, Geschwister, Onkel und Tanten sind immer noch da. "Abgesehen von meiner kleinen Schwester unterstützt meine ganze Familie Putin", sagt Irina. "Sie schauen russisches Fernsehen und glauben alles, was sie dort sehen. Das ist sehr schwierig für mich."
Anfangs habe die russische Invasion noch gemischte und kontroverse Gefühle in ihren Verwandten ausgelöst, doch im Laufe der vergangenen Wochen habe sich die Position vieler Russen verhärtet. "Am Anfang dachte mein Vater, dies sei alles schrecklich und der Krieg würde Russland schaden", berichtet Irina. "Aber er hat seine Meinung geändert."
"Putin ist schlecht - aber was kann man schon tun?"
2017 nahm Anna in Berlin das erste Mal an einer Protestaktion gegen Putins Politik teil. Auslöser waren damals Korruptionsvorwürfe gegen den Ex-Präsidenten Dmitri Medwedew. Der Opposionspolitiker Alexei Nawalny hatte einen Bericht veröffentlicht, wonach Medwedew den Staat um mehr als eine Milliarde Euro geschädigt und teure Villen und Jachten erworben hatte. "Es kamen nicht viele Leute - aber 2021, als Nawalny verhaftet wurde und Informationen über Putins Palast auftauchten, organisierten wir eine weitere Demonstration, und dieses Mal kamen 3000 Menschen", erinnert sich Anna. Und fügt verbittert hinzu: "Wir haben versucht, Aufmerksamkeit zu erregen, aber niemand hat zugehört. Die Leute sagten: Ja, Putin ist schlecht - aber was kann man schon tun?"
Anna glaubt, der russische Präsident habe den jetzigen Krieg seit Jahren vorbereitet. Und die restliche Welt habe die ganze Zeit die Augen verschlossen. "Er hat die Redefreiheit und die Versammlungsfreiheit beseitigt, er hat Menschen getötet und inhaftiert, die sich ihm widersetzt haben. Putin selbst hat jetzt keine Probleme, weil er gut vorbereitet ist. Aber gewöhnliche Russen werden den Preis für seinen Krieg zahlen", sagte sie der DW.
"Ich hoffe, das ist das Ende von Putin"
Wann und wie der Konflikt enden wird, können Anna und Irina nicht vorhersagen. Irina will vorerst in Bulgarien bleiben. Sie gibt privaten Online-Unterricht in Geschichte und Sozialkunde, ihre Schüler sitzen in Russland. Wie stabil ihr Einkommen dabei in Zukunft sein wird, sei jedoch unklar: "Ich mache mir Sorgen, dass bei einer weiteren Eskalation der Situation viele meiner Kunden nicht mehr zahlen können. Außerdem erhalte ich mein Geld in Rubel und der Wechselkurs wird immer schlechter. Vor dem Krieg habe ich, umgerechnet in Dollar oder Euro, doppelt so viel verdient wie jetzt."
Anna hofft, das der Krieg in der Ukraine das Ende von Putin ist. "Ich würde gerne nach Russland zurückkehren und mich politisch engagieren", sagt sie der DW. Aber der Geisteszustand des russischen Präsidenten mache ihr Angst. "Er ist ein Psychopath. Und ich befürchte, dass er sogar bis zu einem Nuklearangriff gehen würde." Bis sie in ihre Heimat zurückkehren kann, hilft Anna Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine, protestiert gegen die russische Aggression und hofft auf den Widerstand der Ukrainer: "Sie sind auf der richtigen Seite, und ich bin sicher, dass sie bis zum Ende kämpfen werden. Ich hoffe, sie gewinnen."
* Die Namen wurden von der Redaktion geändert, um die Identität der Frauen zu schützen
Der Artikel wurde am 23. März 2022 publiziert und am 19.12.2022 aktualisiert.