Bulgarien: Die Russen kommen!
29. August 2017Die Apothekerin im bulgarischen Schwarzmeerdorf Kranevo spricht Russisch, obwohl der Kunde sie auf Bulgarisch angesprochen hat. Schließlich bemerkt sie ihren Fehler und entschuldigt sich: "Sorry, aber 90 Prozent der Kunden sind eben Russen." Das ist im ganzen Ort so. Die 1000-Seelen-Gemeinde verwandelt sich im Sommer in eine russische Kleinstadt. Restaurants, Bars, Geschäfte, Sport- und Hotelanlagen werben auf Russisch, auf der Straße und am Strand hört man fast nur Russisch.
"Die russischen Kunden bestellen viel, sind nicht sehr wählerisch und sparen nicht am Trinkgeld. Ich mag sie viel lieber als den einen oder anderen Skandinavier, der hier aufkreuzt", erzählt Venko, der 30-jährige Kellner im Strandrestaurant, und reicht dem Gast die Speisekarte. Sie ist sorgfältig ins Russische übersetzt.
Top-Reiseziel Bulgarien
"Die Henne ist kein Vogel und Bulgarien ist kein Ausland" - dieses Sprichwort, das sich im russischen Original sogar reimt, sagt alles über die Vorliebe der russischen Touristen für die bulgarische Schwarzmeerküste. Der Flug von Moskau oder St. Petersburg nach Varna dauert nicht lange, das Personal spricht mittlerweile passabel Russisch. Die kyrillische Schrift, die Verwandtschaft der beiden Sprachen, die religiöse, kulturelle und geschichtliche Nähe beider Länder - all dies macht Bulgarien zu einem der beliebtesten Sommerziele der Russen. In der Beliebtheitsskala russischer Strandurlauber rangiert das Land unter den ersten vier - vor Frankreich und Italien. Und "National Geographic Traveller Russia" hat Bulgarien zur besten Destination für Familienurlaub gewählt.
"Der russische Markt ist für uns auch deswegen sehr interessant, weil neben den Pauschalpaketen auch weitere Dienstleistungen sehr gefragt sind", freut sich Tourismusministerin Nikolina Angelakova in einem Zeitungsinterview. Als solche Leistungen nennt sie unter anderem den Wellness- und Sporttourismus.
Eishockey in der Sommerhitze
Am Strand von Kranevo kann man das mit eigenen Augen sehen. Im Hintergrund entsteht eine großangelegte Sport- und Wellnessanlage, und am kilometerlangen Sandstrand joggen, ringen oder turnen frühmorgens und abends Hunderte von russischen Kindern und Jugendlichen, organisiert in Sportvereinen. Das ist hier schon seit den 1970er Jahren so, als in Kranevo noch das große Internationale Pionierlager "Georgi Dimitrow" angesiedelt war, erzählt Ogi, der Hausmeister einer kleinen Ferienanlage in der Nähe.
"Und jetzt das", sagt er und zeigt auf die neugebaute Riesenhalle. "Die Black Sea Ice Arena hat angeblich 50 Mio. Euro gekostet. Allein die Stromkosten erreichen eine vierstellige Summe, erzählte mir ein Freund. Pro Tag!", seufzt Ogi, der über den zugebauten Meeresblick nicht sehr glücklich ist.
Es ist grotesk, die aus der Arena herausgeschaufelten Schneehaufen in der 35-Grad-Hitze schmelzen und daneben jugendliche Gäste in Badeanzügen und mit Schlittschuhen in der Hand zu sehen. Die Black Sea Ice Arena sei "die erste ganzjährig nutzbare Eissporthalle Bulgariens mit 400 Zuschauerplätzen und einem auch für Wettkämpfe geeigneten 50-Meter-Schwimmbecken", so die Eigenwerbung der Anlage.
Es sei vor allem russisches Geld im Spiel, sagen die Einwohner. Aber lohnt sich eine solche Anlage überhaupt? Ein Fachmann, der als "Nikolai" zitiert werden möchte, glaubt, dass die Investoren nicht nur zahlungskräftige russische Touristen im Auge haben. "Die ganzen russischen Sportvereine, die die Kinder und Jugendlichen nach Kranevo schicken, brauchen vernünftige Trainingsmöglichkeiten. Und der russische Staat steckt gezielt Geld in die Vorbereitung künftiger Leistungssportler. Es ist eine Prestigesache", so Nikolai.
Tatsächlich: Eishockey, Eiskunstlaufen, aber auch Schwimmen - alles olympische Sportarten, die in Russland viel gefördert werden. Davon abgesehen, dass "die Russen das Schlittschuhlaufen einfach lieben, auch im Sommer", wie es eine russische Touristin formuliert.
Apotheke und Spirituosengeschäft
Sie ist eine der über 500.000 Russen, die bis zum Ende der Saison in Bulgarien Urlaub machen werden. Es ist vor allem die russische Mittelschicht, die kommt: Familien mit Kindern, die manchmal auch ihre "Babuschkas" (Omas) dabei haben, eine für westliche Touristen eher ungewöhnliche Angewohnheit. Man trifft sie in Kranevo überall, sehr oft in der Apotheke - und im Spirituosengeschäft. Bulgarische Pharma-Erzeugnisse und Naturheilmittel stehen bei den Russen hoch in Kurs, schon seit den Zeiten des Ostblocks. Gleiches gilt für Rotwein und Schnäpse. Und am Strand sitzen die Russen meistens mit einem Buch unter dem Sonnenschirm, nicht mit einem Smartphone.
Nicht alle sind von den Ansturm der Touristen aus Russland begeistert. Für den Tourismus mögen die Russen ein Segen sein; man dürfe aber nie "die sowjetische Stiefel" in Bulgarien vergessen, so drücken es Kritiker aus. In der öffentlichen Diskussion in Bulgarien werden die russischen Touristen immer wieder als "heimliche Okkupanten, die unsere Küste aufkaufen" bezeichnet.
Das sehen die Einheimischen in Kranevo entspannter. Es seien nette, freundliche und friedliche Menschen, erzählt die Ukrainerin Larissa, die wie mehrere Tausend andere Gastarbeiter aus der Ukraine und Moldawien den Personalmangel im bulgarischen Sommertourismus abzufedern hilft. "Mit meiner Familie möchte ich endgültig nach Kranevo ziehen", sagt Larissa, die sich von den russischen Touristen und von der neuen SPA- und Sportanlage einen ganzjährigen Aufschwung in der Ortschaft erhofft.