Ehrung der Goldgräberin
9. Oktober 2012Am Ende war es die einzige Frau unter den sechs Finalisten auf der Shortlist, die sich durchgesetzt hat und mit dem Deutschen Buchpreis 2012 ausgezeichnet wurde: Ursula Krechel mit "Landgericht". Dass sich die siebenköpfige Jury dieses hochrangigen deutschen Literaturpreises für Krechels Mischung aus Familienroman, Historienroman und Collage aus Dokument und Fiktion entschieden hat, zeigt, dass die Zeit reif ist für ungeschönte Einblicke in die deutsche Nachkriegsgeschichte.
Ein rastloser, unbequemer Held
Der Roman "Landgericht" beginnt mit einer Rückkehr, die keine ist. Denn die Hauptfigur ist noch nie an diesem Ort gewesen, an dem sie jetzt auf den Bahnsteig tritt: Lindau, ein idyllisches Städtchen am Bodensee. Es ist der deutsche Jude Richard Kornitzer, der nach zehn Jahren Exil 1948 nach Deutschland zurückkehrt. Es erwartet ihn seine Frau, die Protestantin Claire. Sie hatte hier im Krieg Zuflucht gefunden, als klar war, dass sie ihren Mann nicht ins Exil nach Kuba begleiten konnte. Rückkehr zu einer Frau, die der Mann zehn Jahre nicht gesehen hat, in ein Land mit Menschen, die ihn überraschen: "Wenn er bedachte, es handelte sich um Kriegsverlierer, um Geschlagene, trugen sie den Kopf erstaunlich hoch." Rückkehr aber vor allem auch in ein System, in dem er - immer noch - unerwünscht ist. Er, der promovierte Jurist, der als Jude 1933 aus dem Justizdienst in Berlin entlassen wurde.
"Landgericht" erzählt die Geschichte dieses Richard Kornitzer, seinen ihn zerfressenden Kampf um Gerechtigkeit, Entschädigung, Anerkennung. Seine Waffen sind Briefe, Anträge, Beschwerden, geschrieben auf der Schreibmaschine, die seine Frau retten konnte. Aber es sind stumpfe Waffen. Er kann zwar seinen Beruf als Richter wieder ausüben, bekommt aber zu spüren, wie viel antisemitischer Geist noch durch die junge Bundesrepublik wabert. Ohne Schuldgefühl, ohne Mitleid. Krechel ist damit ein Roman gelungen, der den missratenen Umgang der Deutschen mit der eigenen Vergangenheit benennt. Nur fünf Prozent der Vertriebenen sind überhaupt nach dem Krieg zurückgekommen - vor allem, weil sich in der früheren Heimat niemand für sie interessiert hat.
Ein Roman als Wiedergutmachung
Die Arbeit an dem Buch "Landgericht" sei für sie auch eine persönliche Wiedergutmachung an den Opfern des Nationalsozialismus gewesen, sagte Krechel am Montag Abend in ihrer Dankesrede im Frankfurter Römer. Viele warteten noch heute auf eine zumindest juristische Anerkennung ihrer Leiden, von einer materiellen Entschädigung ganz zu schweigen. Dem Werk "Landgericht" liegt die Personalakte eines 1970 verstorbenen Juristen zugrunde - sie war Krechlers "Goldgrube". 30 Jahre muss ein deutscher Beamter tot sein, bis seine Akte und damit die von ihm verfassten dienstlichen Schriftstücke zugänglich gemacht werden. Schon bei der Recherche zu ihrem Vorgängerroman "Shanghai fern von wo" (2008) - auch hier ging es um Emigrationsschicksale, um Flucht und Heimatlosigkeit - war die 64-Jährige auf ein Gutachten dieses Juristen gestoßen und forschte weiter, bis ihr die Personalakte vorlag.
Mit Sachverstand und Akribie
Krechel selbst vergleicht ihre Arbeitsmethode mit dem versierten Stöbern in Antiquitätengeschäften. "Wenn man reinkommt und eine intelligente Frage nach einem bestimmten Biedermeier-Sekretär stellt, kriegt man eine gute Antwort. Wenn man fragt: 'was ist das das für ein Möbel?' kriegt man eine schlechte Antwort."
Und genau da zeigt sich die große Stärke des Romans: Wie sachkundig und akribisch die Autorin mit diesen historischen Dokumenten arbeitet - und dass es ihr dabei gelingt, durch dieses Einzelschicksal hindurch eine Generationengeschichte zu erzählen. "Das sind die Opfer, die quasi in das Fundament, in das heute sichere Fundament einbetoniert worden sind, und die natürlich vergessen sind, selbstverständlich", erklärt sie, und darum habe sie ein solches Buch geschrieben. Der Titel "Landgericht" ist also doppeldeutig, beschreibt neben dem konkreten Ort auch den Zustand eines Landes, der Bundesrepublik, über die gerichtet wird.
Mehr als zehn Jahre Recherche, dann 26 Monate Schreiben. Die fast 500 Seiten "Landgericht" sind aber ein Großprojekt, das auch in ihren kommenden Werken weiterwirken wird. Nun kann sich die ursprünglich als Lyrikerin, Dramatikerin und Essayistin bekannt gewordene Ursula Krechel erst einmal über 25.000 Euro Preisgeld und eine wahrscheinlich große Publikumsresonanz freuen.
So war es schließlich auch in vergangenen Jahren, etwa 2011, als mit Eugen Ruges DDR-Familiensaga "In Zeiten des abnehmenden Lichts" ebenfalls ein Roman gewonnen hat, der sich mit der deutschen Nachkriegsgeschichte beschäftigt und nach der Auszeichnung zum Bestseller wurde. Denn der Deutsche Buchpreis würdigt nicht nur den besten deutschsprachigen Roman - er kann auch Themen und Debatten lancieren, die von den Lesern dankbar, fast begierig aufgenommen werden. Dies ist nun Ursula Krechel und "Landgericht" zu wünschen.