Britisches Wahlsystem in der Kritik
4. Mai 2005Im Jahr 2001 stimmten knapp 60 Prozent der britischen Wähler gegen Tony Blair. Dennoch reichten ihm knapp 40 Prozent der abgegeben Stimmen, um in die Downing Street 10 zu ziehen. Dieser Stimmenanteil sicherte seiner Labour Partei aber 63 Prozent der insgesamt 659 Sitze im Unterhaus. Was Blair gelungen ist, ist nicht ungewöhnlich, sondern aufgrund des Mehrheitswahlrechts eher die Norm. In den 80er Jahren errang Margaret Thatcher ebenfalls große Mehrheiten im Unterhaus mit weniger als 40 Prozent der Stimmen. Die Geschichte des Landes kennt viele ähnliche Beispiele.
Das Missverhältnis zwischen der Zahl der abgegeben Stimmen und der Zahl der Mandate kommt deswegen zustande, weil Großbritannien in Wahlkreise aufgeteilt ist, wo eine einfache Mehrheit genügt, um ein Mandat zu erringen. Die Stimmen der Verlierer spielen dann keine Rolle mehr.
Traditionell niedrige Wahlbeteiligung
Oft vereinen aber die unterlegenen Kandidaten in einem Wahlkreis die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich. Der Sieger vertritt dann nur eine Minderheit. Viele Wahlberechtigte bekommen deshalb das Gefühl, dass es sinnlos sei, die Stimme abzugeben und bleiben den Wahllokalen fern. Die Wahlbeteiligung ist daher traditionell niedrig. Im Jahr 2001 lag sie bei knapp 60 Prozent. Dieses Mal, wo 646 Abgeordente gesucht werden, könnte sie noch geringer ausfallen.
Das System stützt also ein Zweiparteiensystem und benachteiligt eindeutig kleine Parteien, weil sie in einer Vielzahl von Wahlkreisen eine Mehrheit gewinnen müssten. Diese Aufgabe ist nicht zu lösen, weil sie nie überregional gleich stark präsent sind. Die großen Parteien, die landesweit mit viel Geld und Kandidaten antreten, können in ihren jeweiligen Hochburgen, ob Arbeiterviertel oder Vororten immer genügend Sitze sichern. So kommt es, dass die drittstärkste Partei, die Liberaldemokraten im Jahr 2001 zwar etwa 18 Prozent der Stimmen erhielt, aber lediglich auf 52 Sitze kam - nur knapp 8 Prozent aller Mandate.
Klare Mehrheiten
Ein Nachteil des Systems ist auch, dass die Wahl nicht wirklich national entschieden wird. Denn bei Unterhauswahlen gelten etwa drei Viertel der Wahlkreise für den jeweiligen Mandatsträger als sicher. Deswegen richtet sich der Blick der Parteien auf die verbleibenden 166 Wahlkreise, die bei einem geringen Meinungsumschwung von einer anderen Partei errungen werden könnten, die sogenannten "Marginals".
Die Befürworter des Systems haben allerdings auch einige gute Argumente: Das Mehrheitswahlrecht schafft klare Mehrheiten im Unterhaus und macht Koalitionen überflüssig. Ein Politikwechsel und Reformen wie damals unter Margaret Thatcher werden dadurch einfacher, aber auch kontroverser.
Wachsender Reformdruck
Die Kandidaten sind in ihren Wahlkreisen meistens bestens bekannt. Daraus kann seitens der Wähler eine starke Identifizierung mit dem Mandatsträger entstehen. Eine bekannte Persönlichkeit kann beispielsweise einen Sieg in seinem Wahlkreis gegen den nationalen Trend erringen. Umgekehrt kann ein bekanntes Regierungsmitglied aber auch von unzufriedenen Wählern bestraft und in die politische Wüste geschickt werden.
Der Reformdruck ist im letzten Jahrzehnt gewachsen. Als Reaktion darauf sind modifizierte Formen des Verhältniswahlrechts bei der Schaffung von Regionalparlamenten in Schottland, Wales und Nordirland sowie bei den Wahlen zum Europaparlament eingeführt worden. Realistisch ist eine Abschaffung des Mehrheitswahlrechts für Unterhauswahlen zur Zeit aber nicht, obwohl Tony Blair vor einigen Jahren die Prüfung eines entsprechenden Vorschlags zugesagt hat. Letztlich treten nur die kleinen Parteien dafür ein. Und sie können nichts erzwingen, da ihnen dafür die nötigen Sitze im Unterhaus fehlen.
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