Brienz: Felsmassen verfehlen Schweizer Dorf nur knapp
16. Juni 2023Seit Wochen warteten Beobachter auf diesen Moment: Mit großem Getöse stürzten riesige Felsmassen im Dorf Brienz in der Südostschweiz den Hang hinunter und blieben nur wenige Meter vor dem alten Schulhaus auf rund 1100 Metern Höhe liegen. Eine Straße oberhalb des Dorfes liege meterhoch unter Schutt, sagte Christian Gartmann, Sprecher der Gemeinde Albula, zu der Brienz gehört.
Gegen Mitternacht spielte sich der Felssturz ab - unüberhörbar. Im ganzen Talkessel sei es äußerst laut gewesen. Der Krisenstab der Gemeinde tagte zweimal in der Nacht auf Freitag und wertete im Morgengrauen erste Fotos aus. "Brienz hatte großes Glück", sagte Gartmann dem Sender SRF. Ob Wohnhäuser und Kirche tatsächlich komplett verschont blieben, wie es derzeit den Anschein hat, soll noch bei einem Hubschrauberflug geklärt werden.
"Wie eine Kanonenkugel"
"Bei solchen Ereignissen krachen manchmal Felsblöcke auf andere Blöcke. Dann gibt es Splittersteine von der Größe einer Faust bis zu einem Fußball", so Gartmann. Sie könnten "wie eine Kanonenkugel" Hunderte Meter durch die Luft schießen und Fensterscheiben oder andere Gebäudeteile beschädigen.
Brienz, das rund 25 Kilometer Luftlinie südwestlich von Davos im Kanton Graubünden liegt, ist seit Wochen gesperrt. Niemand darf sich dort bewegen. Nur installierte Kameras zeichnen rund um die Uhr auf, was geschieht. Vorher-nachher-Bilder zeigen die massiven Veränderungen im Landschaftsbild. Am Donnerstag waren in dem Gebiet noch nackte Felsen, einzelne Brocken, helles und dunkles Gestein sowie darunter Wiese, Bäume und eine Holzhütte zu erkennen. Das alles liegt an diesem Freitag unter einem gigantischen grau-braunen Schuttberg. Das Alpendorf sieht daneben wie eine Miniatursiedlung aus.
Straßen und Bahnstrecken gesperrt
Unterhalb von Brienz waren vorsichtshalber auch Straßen und Bahnstrecken gesperrt worden. Der Bahnverkehr in den Ferienort St. Moritz wird umgeleitet, weil die Strecke zwischen Tiefencastel und Filisur nicht befahren wird, wie ein Sprecher der Rhätischen Bahn sagte. Der sechste Etappenstart des Fahrradrennens Tour de Suisse, das vom Tod des Schweizer Radprofis Gino Mäder überschattet wurde, konnte nicht wie geplant in La Punt stattfinden.
Anders als beim jüngsten Bergsturz in Tirol in Österreich gilt in Brienz als Auslöser nicht der Klimawandel. Dieser führt andernorts zur Permafrostschmelze, wodurch sich Eis verflüssigt, das Fels in großen Höhen wie Klebstoff zusammenhält. In Tirol waren am Sonntag nach neuesten Messdaten rund eine Million Kubikmeter Fels abgestürzt: Große Teile am Südgipfel des Fluchthorn-Massivs samt Gipfelkreuz brachen ab. Das Felsmaterial landete fernab von bewohnten Gebieten und gefährdete niemanden.
Langes Warten auf Heimkehr
Der Berg oberhalb von Brienz ist nach Angaben von Experten aber seit Jahrtausenden in Bewegung. Die sogenannte Rutschung hatte sich in den vergangenen 20 Jahren stark beschleunigt. Diese Woche bewegten sich die Felsmassen schon mit einer Geschwindigkeit von 40 Metern pro Tag nach unten. Als die Lage im Frühjahr zu brenzlig wurde, beschlossen die Behörden, die rund 80 Einwohner in Sicherheit zu bringen. Seit Mitte Mai harren die Menschen bei Verwandten oder in Ferienwohnungen in der Region aus.
In Brienz rechneten Geologen mit dem Abrutschen von zwei Millionen Kubikmetern Gestein, doppelt so viel wie in Tirol. Wie viel davon in der Nacht wirklich heruntergekommen ist, lässt sich noch nicht abschätzen. Es ist auch unklar, ob weiterhin Gestein Richtung Dorf rutscht. "Wir gehen derzeit davon aus, dass dies leider noch nicht alles war", sagte Gemeindesprecher Gartmann.
Wann die Bewohner dauerhaft in ihre Häuser zurückkehren können, ist daher noch offen. Bis dahin soll es lediglich Kurzbesuche geben, um die allernötigsten Dinge zu erledigen. Maximal zwei Personen pro Haushalt durften sich bereits vor gut einer Woche in einem festgelegten Zeitfenster für je eineinhalb Stunden in ihrer Wohnung aufhalten.
jj/sti (dpa, ap)