Brexit: Was, wenn es knallt?
10. April 2019Egal, ob es zu einem geregelten Ausstieg Großbritanniens aus der EU kommt oder zum gefürchten Knall, dem "hard brexit": Schon jetzt hat die britische Wirtschaft Schaden genommen durch die lange Ausstiegsdebatte. Das britische Wirtschaftswachstum lag letzten Jahr noch bei 1,4 Prozent, so niedrig wie seit sechs Jahren nicht. Das britische Pfund hat seit dem Brexit-Votum 15 Prozent an Wert verloren. Die Wirtschaft des Vereinigten Königreichs steht schon jetzt 2,5 Prozent schwächer da als bei einem angenommenen Votum für den Verbleib in der EU, rechnete das Centre for European Reform jetzt vor.
Es könnte aber noch dicker kommen. Die Bank of England prognostiziert, ein No-Deal-Ausstieg werde die Wirtschaft um bis zu sechs Prozent einbrechen lassen. Schauen wir uns an, wo es richtig schwierig werden könnte:
Ausländer, Europäer, Briten
Der Brexit ändert den Status vieler Menschen - so oder so, mit oder ohne Austrittsvertrag. Das gilt für viele, die in Großbritannien leben und arbeiten und für Briten, die in der EU leben und arbeiten. Brauchen die nun alle neue Pässe?
Große Bereiche der britischen Wirtschaft hängen am Zulauf von Beschäftigten aus dem Ausland wie an einem Tropf, ob in der Landwirtschaft oder im Gesundheitswesen. Eine Million Arbeitskräfte kamen allein in den letzten 15 Jahren. Den Zutritt ungelernter Arbeiter zu beschränken, würde zu akutem Mangel an Beschäftigten führen, fürchten Unternehmen. Derzeit leben rund 3,8 Millionen EU-Bürger in Großbritannien. Für die Zeit nach dem Brexit müssen sich EU-Bürger in Großbritannien registrieren. Wer schon mehr als fünf Jahre im Land ist, hat direkt Anspruch auf ein Bleiberecht. Doch die Beweislast liegt am Ende beim Antragsteller. Kritiker fürchten, dass dabei viele Menschen durchs Raster fallen könnten, zum Beispiel Freiberufler und Rentner.
Das könnte auch Tausende von Obachlose aus EU-Ländern treffen, die in England oder Schottland auf der Straße leben. Ohne neue Regeln könnte ihnen Freiheitsentzug oder Deportation drohen und der Zugang zum Arzt unmöglich werden.
Umgekehrt ist die Zahl der Einbürgerungsanträge von Briten in vielen EU-Ländern erheblich gestiegen. Das gilt nach einer Umfrage der Deutschen Presse-Agentur unter anderem für Deutschland, Irland, Portugal und Schweden.
Banker und andere Ausländer
Der Brexit sollte der Wirtschaft der Insel einen gewaltigen Schub geben - in London bedeutet Wirtschaft vor allem: Finanzbranche und 'City' - wandern all die Banker nun ab nach Frankfurt, Dublin oder Paris?
Schon jetzt sind Vermögenswerte von einer Billion Pfund (rund 1,17 Billionen Euro) wegen des geplanten Brexits von London in die Europäische Union gebracht worden. Das zeigte eine Studie der Unternehmensberatung EY. Parallel dazu wurden 7000 Arbeitsplätze verlagert.
Am meisten Anziehungskraft hat Dublin, fand die Denkfabrik New Financial heraus. Vor allem Vermögensverwalter wählten Irlands Hauptstadt. Es folgen Luxemburg, Paris, Frankfurt und Amsterdam. Für Frankfurt entschieden sich insbesondere Banken, für Amsterdam Handelsplattformen und Handelshäuser.
Viele ausländische Banken standen nämlich durch das Brexit-Votum vor dem Problem, dass sie künftig von London aus keinen Zugang mehr zum EU-Markt haben werden. Deshalb müssen sie innerhalb der künftigen EU eine neue Banklizenz beantragen. Die meisten Banken dürften das nach Einschätzung der Deutschen Bundesbank aber rechtzeitig vor einem wie auch immer gearteten Brexit schaffen.
Krank durch Brexit?
Der Brexit sollte nach den Versprechungen der Brexiteers helfen, viele Millionen Pfund einzusparen, die - wie die beworbenen 350 Millionen Pfund jede Woche - sofort in das Gesundheitswesen fließen könnten. Werden die Briten nun gesünder? Oder eher kränker?
Im Januar hat die britische Regierung 5000 neue Kühlschränke für Krankenhäuser gekauft. Das teilte der Gesundheitsminister selbst mit. Er wollte deutlich machen, London bereitet sich auf die Probleme vor, die absehbar durch einen No-Deal-Brexit im Gesundheitswesen drohen. Denn derzeit kommen Monat für Monat 45 Millionen sogenannte Patientenrationen an Medikamenten aus der EU auf die Insel. Die Versorgung könnte erheblich leiden; deshalb wird jetzt schon mal eingelagert.
Nicht weniger gefährlich: Es drohen schwere Personalengpässe in britischen Krankenhäusern. Und das selbst dann, wenn es zu einem geregelten Brexit käme. Mitte letzten Jahres kamen 16 Prozent der Krankenschwestern aus dem Ausland, viele kehren jetzt zurück, der Nachschub stockt. Dabei fehlen bereits heute 40.000 Pflegekräfte, mit dem Brexit könnten es 50.000 werden, prognostizierte unlängst eine Studie zum Sektor.
"Ein No-Deal-Brexit hätte unmittelbare und drastische Folgen für die Lieferketten" bei Arzneimitteln und Impfstoffen sowie für das Personal, fasst das Fachblatt "The Lancet Journal" zusammen.
Lieferketten und Lebensmittel
Der Brexit sollte Freiheit für britische Unternehmen und Bürger bringen und die Wirtschaft stärken - aber woher sollen nun Käse, Fleisch und Gemüse für die Briten kommen?
Ohne einen geregelten Ausstieg würden etwa beim schottischen Lachs für den Export Zölle von 14 Prozent anfallen, ganz abgesehen von längeren Kontrollen an den Grenzen, weiß die Unternehmerin Julia Stryj: "Ein Großteil unserer Kunden kommt aus dem EU-Ausland", sagt sie. Sie selbst, Geschäftspartner und deren Angestellte könnten die höheren Kosten und den zusätzlichen Arbeitsaufwand nicht stemmen.
Nicht besser ist es beim Import von Lebensmitteln. Bei frischen Lebensmitteln wird rund die Hälfte des britischen Bedarfs importiert. Den Einzelhändlern auf der Insel droht im Falle eines harten Brexit ein Engpass. Es gebe schon jetzt nicht genug Lagerhallen, um große Mengen verderblicher Waren vorzuhalten, heißt es bei der Nummer zwei im der britischen Supermärkte, Sainsbury's. Ganz schwarz sieht der dänische Spediteur DSV: Ein harter Brexit brächte umfassende Zollkontrollen in den britischen Häfen. Ein Endlos-Stau wäre die Folge. Der könnte sich über die gesamte 130 Kilometer lange Strecke zwischen London und Dover erstrecken. In Dover werden rund 17 Prozent der Güter für die Insel abgefertigt. Jeden Tag rollen rund 10.000 Laster durch den Hafen.
Von Flugzeugen und Autos
Den Brexiteers schien eine eng verflochtene europäische Wirtschaft schon immer ein Graus - aber dachten sie dabei auch an ausländische Touristen auf der Insel? Oder britische Autoteile? Britische Firmen hängen in einem dichten Geflecht von Lieferketten - reißen die nun alle bei einem Brexit ohne Vertrag?
Immerhin beim Flugverkehr haben Großbritannien und die EU für den Fall eines ungeordneten Brexit vorgesorgt: Der Luftverkehr in Europa soll weitgehend ungestört weitergehen. Dafür gibt es Übergangsregeln. Denn innerhalb der EU dürfen nur Airlines Flüge anbieten, die zu mehr als 50 Prozent im Besitz von EU-Ansässigen sind und kontrolliert werden. Wegen der hohen Anteile britischer Aktionäre laufen große Luftfahrtkonzerne Gefahr, Verkehrsrechte zu verlieren. Sie bekommen bis zu zwölf Monate Übergangszeit, um ihre Mehrheitsverhältnisse neu zu regeln.
Weniger glücklich erscheinen da die Autobauer. Für die deutsche Autoindustrie etwa ist Großbritannien der wichtigste Exportmarkt. Sie befürchtet neben Zöllen und Transportproblemen beim Neuwagen-Verkauf Störungen der "Just-in-time"-Produktion in der Lieferkette. Für den Fall eines ungeregelten Brexits rechnet der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) allein für deutsche Unternehmen mit bis zu 10 Millionen zusätzlichen Zollanmeldungen pro Jahr, neben den eigentlichen Zöllen. Mögliche Kosten: allein für die deutschen Autoexporte Mehrbelastungen von rund zwei Milliarden Euro im Jahr.
Der deutsche Zulieferer Schaeffler hat mit Verweis auf den Brexit gleich angekündigt, zwei von drei Werken in Großbritannien zu schließen. Auch viele andere Unternehmen ziehen bereits Investitionen von der Insel ab.
Gefahrenzone Nordirland
Der Brexit könnte die Grenze zwischen Irland und Nordirland zu einer langen Reihe von Pulverfässern werden lassen – den Brexiteers war das offenbar nicht so wichtig. Geraten mit dem Friedensprozess auf der Grünen Insel nun auch Prosperität und Wachstum in Irland und Nordirland in Gefahr?
Die Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem zu Großbritannien gehörenden Nordirland ist 500 Kilometer lang. Es gibt hier 250 offizielle Straßenübergänge - mehr als an der gesamten Ostgrenze der Europäischen Union. Sie alle werden seit 20 Jahren nicht mehr kontrolliert. 13.000 Mal am Tag queren Wirtschaftstransporte die Grenze, allein 3000 davon haben Fleisch, Eier, Milch oder Käse geladen.
Eine der wichtigsten Passagen des Friedensvertrags von 1998, dem sogenannte Karfreitags-Abkommen, hielt fest, dass es nie wieder eine "harte Grenze" zwischen Nordirland und dem Süden geben dürfe. Die droht nun ohne einen geregelten Brexit. Der Nordirland-Konflikt kostete 3700 Menschen das Leben. Heute fürchten viele, der Konflikt könnte jederzeit wieder aufbrechen, wenn der Brexit weiter so schlecht gemanagt wird. Ein britischer Austritt zöge nämlich unweigerlich Zollkontrollen zwischen Irland und Nordirland nach sich. Das hat der zuständige EU-Kommissar Pierre Moscovici mehr als einmal gesagt: "Man darf sich da nicht täuschen: Es wird Grenzkontrollen geben." Daran könnte das ganze Brexit-Vorhaben, jedenfalls in einer geregelten Form, immer noch scheitern.
Und die Tiere?
Die Nashörner und Okapis in den Zoos Europas konnten nicht über den Brexit abstimmen - und doch könnte der gefährlich für sie werden. Warum?
Für Umwelt- und Tierschützer liegt der No-Deal-Brexit nahe an einem Horrorszenario. 80 Prozent der Richtlinien zum Umweltschutz, die heute in Großbritannien gelten, kommen von der EU aus Brüssel. Die will London angeblich in britische Gesetzgebung übernehmen. Passiert ist bislang aber nicht viel, beklagen Umweltschützer. Großbritannien würde beispielsweise den Zugang zur EU-Datenbank über gefährliche Chemikalien verlieren, es würde aus Programmen zum Meeresschutz herausfallen, und überall im Land könnte sich der Müll stapeln - bislang ist Großbritannien nämlich einer der größten Müll-Exporteure in der EU.
Und dann sind da noch die eh schon bedrohten Tiere in europäischen Zoos. Für die Zucht tauschen Zoos ihre Tiere regelmäßig aus, um Inzucht und damit verbundene genetische Defekte zu vermeiden. Auch hier gelten EU-Regeln. Mehrere Zoos beeilen sich nun, Tiere auszutauschen, solange die Regeln auch für Großbritannien noch gelten. Sander Hofman vom Zoo Planckendael fürchtet, dass der Brexit den Tausch der Tiere zwischen Großbritannien und anderen EU-Ländern zumindest vorerst zum Erliegen bringen könnte. Hofman koordiniert den Austausch der vom Aussterben bedrohten Okapis in Europa. In Europa gebe es zurzeit noch 73 Okapis. Davon lebten 13 in britischen Zoos. Noch.