Brexit: Wem die Stunde schlägt
17. Januar 2020Irgendetwas muss passieren. Man kann schließlich diesen historischen Tag nicht einfach vorüberziehen lassen. Die Brexiteers jedenfalls grübeln seit Wochen, wie man den Ausstieg aus der Europäischen Union am 31. Januar um 23.00 Uhr Ortszeit richtig schön feiern könnte. Soll man das ganze Land von oben bis unten mit britischen Fahnen überziehen? Eine Michel Barnier-Puppe am Strick durch die Straßen ziehen, wie man es ihm alten Rom mit besiegten Feldherrn machte? Auch wenn nach wie vor die Hälfte der Briten den Brexit nicht will – das sind doch alles nur zutiefst unbritische schlechte Verlierer.
Jetzt freut euch gefälligst!
Der Premierminister wollte das Thema eher nicht vertiefen, weil er eine politische Stolperfalle vermutet. Er machte lieber einem typischen BoJo-Scherz: "Gebt 'nen Zehner für den Big Ben Bong" - er findet Alliterationen anscheinend außerordentlich amüsant. Die Freunde des Brexit wollen nämlich die historische Glocke am Parlament läuten lassen, wie das bei großen Staatsereignissen üblich ist, etwa zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie finden wohl, die Befreiung vom Joch der EU sei ein ähnlich erhebender Anlass wie der Sieg über die Nazis, was einen verstörenden Blick in ihre geistige Befindlichkeit eröffnet. Für wen die Gespräche über die Zeit nach dem Brexit zur Kapitulationserklärung werden, ist dabei noch gar nicht raus.
Johnson jedenfalls hat Glück, dass der Klöppel der großen Glocke abmontiert ist, weil der Turm gerade saniert wird und er die Kontroverse umgehen kann. Wie das ganze Parlamentsgebäude und andere Teile der britischen Infrastruktur ist der Big Ben akut vom Einsturz gefährdet. Es würde 500.000 Pfund kosten, das Läutwerk provisorisch in Gang zu setzen, behauptet der Premier und regt an, das Geld könne man durch Crowdfunding einsammeln. Wenn also eine halbe Million Brexiteers jeweils 1 Pfund gibt oder superreiche Unterstützer wie sein Tory-Kollege Baron Ashcroft gleich die ganze Rechnung übernehmen, stünde dem feierlichen Geläute nichts im Wege.
Wenn schon nicht der Big Ben, dann könnten doch wenigstens im ganzen Land die Kirchenglocken läuten? Der Bischof von Buckingham war empört und fand den Wunsch total geschmacklos. Das würde die Zerrissenheit im Land nur noch vertiefen, erklärten andere Pfarrer, sie müssten sich schließlich auch ums Seelenheil der Remainer kümmern, für die dieser Tag eher schmerzhaft sei. Kein Glück also bei den irdischen Vertretern himmlischer Freuden.
Zwischen Kindergeburtstag und Beerdigung
Aber wenn denn unbedingt gefeiert werden soll, wie wäre es mit Kuchen für alle? In der Ideenwelt von Boris Johnson spielte doch der "cake" beim Brexit eine große Rolle, den er immer haben und gleichzeitig essen wollte. Wie oft auch immer die Spielverderber in Brüssel ihm erklärten, dass er sich entscheiden müsse – er beharrte auf dem Konzept. Soll er also auf Staatskosten ein paar hunderttausend Kuchen backen lassen, damit wenigstens bei der großen Brexitparty jeder was abbekommt! Außerdem würden damit sentimentale Erinnerungen an die Kindergeburtstage von früher geweckt, wo man sich den Bauch hemmungslos mit Süßkram vollschlagen konnte. Was auch deshalb gut zum Brexit passt, weil einem erst hinterher schlecht wird.
So eine Volksspeisung mit Brexit-Gebäck könnte am Ende sogar die Europafreunde beglücken. Schließlich reicht man Kuchen auch zu Beerdigungen, so dass die richtige Balance zwischen Heiterkeit und Trübsinn getroffen wäre. Man kann das noch mit Fähnchen garnieren und vor allem reichlich Alkohol ausschenken, so dass niemandem die Gefühle im Hals stecken bleiben.
Eine weitere Gedenkmünze aufzulegen, wäre dagegen eher eine blöde Idee. Denn das 50-Pence-Stück, das eigentlich zum 31. Oktober 2019 geprägt worden war, musste wieder eingeschmolzen werden - weil dieser Brexit-Termin nicht zu halten war. Die Aufschrift aber war unschlagbar: "Frieden, Wohlstand und Freundschaft mit allen Ländern". Vor allem nachdem der Wirtschaftsdienst Bloomberg errechnet hat, dass der Brexit die britische Wirtschaft schon jetzt so viel gekostet hat wie alle britischen EU-Beiträge in fast 50 Jahren zusammen. So etwas nennt man Geldvernichtung, die eher nicht mit Gedenkmünzen gefeiert wird.
Sag es mit Musik
Londons Bürgermeister Sadiq Khan hat Brexit-Häuptling Nigel Farage verboten, seine Party auf dem Platz vor dem Parlament mit einem Feuerwerk zu krönen. Es ist doch unfair, wenn man aus gegebenem Anlass nicht ein bisschen festliche Umweltverschmutzung in die Luft über der Themse ballern darf. Aber wenn das nicht erlaubt sein soll, bleibt den Brexiteers noch Musik, um die Massen in Wallung zu bringen. Da bieten sich die Oldies but goldies an, wie "Land of hope and glory", wo zur Musik von Edward Elgar "die Grenzen weit und weiter gezogen" werden sollen. Was bei näherer Betrachtung und angesichts der schottischen Spaltungspläne nicht so richtig zum Brexit passt. Oder das beliebte "Rule Britannia", in dem die britische Herrschaft über die Weltmeere gefeiert wird. Da Großbritannien aber nur noch einen Flugzeugträger besitzt, ist diese Herrschaft auch nicht mehr das, was sie mal war.
Die Popmusik bietet da eher Stoff. Wie wäre es mit "The Final Countdown" kurz vor 23.00 Uhr? Mitreißender Song, in dem es allerdings auch um eine mögliche Rückkehr geht... also eher nicht. Oder die Brexiteers stehen zu ihrem Zerstörungswerk und spielen einfach die Sex Pistols mit "Anarchy in the UK". Schließlich könnten sie noch den Stadionhit des FC Liverpool umdichten in "You'll always walk alone" und ihre Einsamkeit in Freiheit feiern.
Auf der anderen Seite der Themse aber, gegenüber vom Parlament, wo der Brexit gerade wie geschmiert über die Bühne geht, bietet sich Gelegenheit zum gesanglichen Gegenschlag. Da wäre Platz für ein paar tausend EU-Bürger, die trotzig aus Leibeskräften Fleetwood Mac grölen: "Go your own way" – Haut einfach ab. Es bleiben immerhin noch zwei Wochen Zeit zum Üben.