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Brexit: "Die Emotion hat gesiegt"

Volker Wagener26. Juni 2016

Einwandernde Arbeitskräfte aus der EU waren das entscheidende Thema beim britischen Referendum, sagt Migrationsforscher Christian Dustmann im DW-Interview. Dabei hat das Brexit-Lager Fakten verdreht.

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Brexit: London, "Evening Standard" mit Überschrift "We´re out" (Foto: picture alliance/dpa)
Bild: picture alliance/dpa/J.-N. Guillo

DW: Herr Dustmann, wäre das britische Referendum anders ausgegangen, wenn es 2015 nicht Merkels Flüchtlingspolitik der offenen Tür gegeben hätte?

Christian Dustmann: Das glaube ich nicht. Die Migration hat sicherlich eine große Rolle gespielt. Wichtig war aber für die britischen Wähler die intra-europäische Mobilität. Das heißt, die Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU.

Die Flüchtlingseinwanderung spielt für Großbritannien sowieso keine Rolle. Cameron hat sich bereit erklärt, über die nächsten fünf Jahre 20.000 Syrer aufzunehmen. Das ist im europäischen Vergleich eine extrem geringe Zahl. Da Großbritannien eine Insel ist, ist es extrem schwierig für Flüchtlinge, überhaupt einzureisen. Insofern war das nicht das Thema beim Referendum.

Thema war vielmehr, dass es wenig Möglichkeiten gibt, Migration zu regulieren, solange die Migration innerhalb der EU stattfindet. Das war das Hauptargument der Brexit-Kampagne.

"Extreme, unplausible Szenarien"

Eine Umfrage vom Oktober 2015 spricht bereits eine klare Sprache: 52 Prozent der Briten gaben an, dass sie die Einwanderung am meisten bewegt. Nur 14 Prozent sorgten sich um das Thema Kriminalität und nur zwölf Prozent um die Löhne.

Das Thema des Referendums war vor allem in den vergangenen Monaten die Nicht-Möglichkeit der englischen Regierung, die Migration aus den EU-Ländern zu kontrollieren. Noch mal: Das war der wichtigste Punkt. Und dabei wurden extreme und völlig unplausible Szenarien suggeriert.

Zum Beispiel?

Zum Beispiel wurde simuliert, wie groß die Einwanderung sein werde, wenn in Zukunft die Türkei EU-Mitglied wird. Was ganz sicher in den nächsten Jahrzehnten nicht passieren wird. Aber es hat das Gefühl der Menschen gestärkt, dass sie keine Kontrolle über Einwanderung haben, solange das Vereinigte Königreich Teil der EU ist.

Die Regierung Cameron hatte eine Netto-Zuwanderung von 100.000 Menschen pro Jahr - also abzüglich Auswanderung - als Ziel vorgegeben. Tatsächlich liegt die aktuelle Zahl bei rund 330.000 Menschen. Das ist zwar mehr als das Dreifache, aber ist das so zum Fürchten, wenn man es mit den wirtschaftlichen Fakten vergleicht?

Die Migranten, die nach Großbritannien kommen, sind sehr viel besser ausgebildet als die, die nach Deutschland gehen. Aber das hat in der Debatte gar keine Rolle gespielt. Man muss auf das Umfeld schauen, um die Stimmung zu verstehen.

Die wirtschaftliche Krise hat Großbritannien enorm stark getroffen. Das Defizit ist extrem nach oben gegangen. Es liegt immer noch bei etwa vier Prozent. Das ist am oberen Rand im EU-Vergleich. Die konservative Regierung Cameron praktiziert zudem seit Jahren eine extreme Sparpolitik. Das heißt, viele öffentliche Dienstleistungen sind sehr stark reduziert worden - teilweise bis zu 30 Prozent.

"Vor Lügen nicht zurückgeschreckt"

Zur gleichen Zeit wuchs die Bevölkerung durch Migration einerseits und - anders als in Deutschland - durch eine höhere Geburtenrate. Das hat dazu geführt, dass zum Beispiel das Gesundheitswesen ärmer geworden ist. Die Wartezeiten in den Praxen und Krankenhäusern wurden länger. Transferzahlungen wurden stark gekürzt. Und auch der öffentliche Nah- und Fernverkehr bekam das zu spüren. Zudem sind die Reallöhne entlang der gesamten Einkommensverteilung nach der großen Rezession für viele Jahre stark gesunken. Das waren - und sind noch immer - sehr harte Jahre für die Menschen. Ganz besonders für die, die am unteren Ende der Einkommensskala liegen. Besonders viele im Norden Großbritanniens.

Großbritannien: Prof. Christian Dustmann (Foto: privat)
"Für den Brexit aus Protest gegen die Regierung": Migrationsforscher Christian DustmannBild: privat

Und für diese Entwicklung hat die Regierung Cameron teilweise die EU verantwortlich gemacht. Das wiederum wurde sehr stark unterstützt von der britischen Presse, die weit über 70 Prozent pro-Brexit war. Wenn man mit so etwas fünf, sechs Jahre konfrontiert wird - und die Berichtserstattung über Europa war auch vor der großen Rezession nicht gerade positiv -, dann baut sich da ein stark anti-europäisches Bild auf.

Und das ist extrem ausgenutzt worden vom Brexit-Lager. Die haben auch vor Lügen nicht zurückgeschreckt. Es war sicherlich auch nicht überzeugend, dass derselbe David Cameron und sein Finanzminister George Osborne, die sich über viele Jahre sehr negativ über die EU geäußert haben, nun die Menschen auffordern, für den Verbleib in der EU zu stimmen.

Das ist psychologisch gesehen nachvollziehbar. Aber wie waren die wirtschaftlichen Fakten: Hatte Großbritannien seit der Jahrtausendwende eher Vor- oder eher Nachteile durch Zuwanderung?

Ökonomische Rationalität hat bei diesem Referendum keine Rolle gespielt. Hätte es eine Rolle gespielt, wäre Großbritannien noch in der Union. Es war eine sehr emotionale Entscheidung. Das hat damit zu tun, dass sich ein großer Teil der Bevölkerung in den vergangenen sieben, acht Jahren als Verlierer gesehen hat. Und dafür wurde das Establishment verantwortlich gemacht, wer immer das auch ist. Viele haben aus Protest und gegen die Regierung für den Austritt gestimmt.

"Debatte von der Boulevardpresse aufgeheizt"

Also die Psyche, die Emotion, hat die Rationalität besiegt?

Ganz genau! Sie können versuchen, den Leuten zu erklären, dass Zuwanderung aus der EU im Falle Großbritanniens positiv ist. Das haben wir auch über Jahre versucht. Aber das interessiert die Menschen nicht, das wollen die nicht hören. Das verdrängen sie einfach. Um ein Beispiel zu geben: Migranten, die nach dem Jahr 2000 gekommen sind, und vor allem Migranten aus der EU, haben weit mehr an Steuern bezahlt, als sie an öffentlichen Leistungen in Anspruch genommen haben. Also, ein Gewinn für den britischen Fiskus.

Ist die Fixierung darauf, totale Kontrolle über die Grenzen zu behalten, für die Briten nicht ein Fetisch?

Zuwanderung löst bei den Menschen immer starke Emotionen aus. Zudem wurde die Debatte in den vergangenen Jahren stark von der Boulevardpresse und natürlich der [rechtspopulistischen, Anm.d.Red.] UK Independence Party, UKIP, aufgeheizt. Die Menschen sehen jedes Jahr die Statistik. Zuletzt waren 300.000 Zuwanderer mehr eingereist als Menschen ausgewandert sind. Das Ziel von Cameron liegt bei 100.000. Davon ist man also weit entfernt. Das macht dann den Menschen Angst - vor allem denen in den wirtschaftsschwachen Regionen, dort, wo seit Jahren die Löhne stagnieren und real sogar gesunken sind. Das wird dann alles der Einwanderung zugeschrieben.

Flüchtlingsbewegungen lassen sich vom Brexit nicht beeinflussen. Haben die Briten dieses Thema nun komplett Europa - oder wie sie sagen - dem Kontinent überlassen?

Ja, das würde ich so sagen.

Prof. Christian Dustmann ist Wirtschaftsprofessor und Migrationsforscher. Er lehrt am University College London.

Das Interview führte Volker Wagener.