"Das ist unser Unabghängigkeitstag"
24. Juni 2016Nach den heftigen Unwettern am Vortag scheint es in London ein schöner Tag zu werden. Der Himmel ist nahezu wolkenlos, die Sonne scheint. Ein schöner Tag ist es auch für eine Gruppe von Brexit-Befürwortern, die an einer Straße an der Themse stehen. Einige von ihnen haben sich in den Union Jack, die britische Fahne, gehüllt. Andere tragen große rote Schilder mit der Aufschrift "Vote Leave". Die Gruppe fällt auf. Hin und wieder fährt ein Auto vorbei und hupt, dann fängt die Gruppe laut an zu jubeln.
"Ein Sieg der Demokratie"
Das Ergebnis des EU-Referendums kam am frühen Freitagmorgen - knapp, aber eindeutig: Die Briten wollen aus der EU austreten. Rund 52 Prozent haben für "Leave" gestimmt. Bei den EU-Gegnern auf der Straße ist die Stimmung euphorisch. "Das ist unser Unabhängigkeitstag", sagt Suzy, die die ganze Nacht mit ihren Mitstreitern auf das Ergebnis gewartet hat. Ihren vollen Namen will sie nicht nennen. "Es ist ein Tag der Freiheit. Dafür haben wir gekämpft. Es ist einfach ein wundervoller Tag für uns." Für sie ist der Brexit in erster Linie ein Sieg der Demokratie. Die EU verbindet sie mit Korruption, niemand müsse dort Rechenschaft ablegen. "Das Volk hat gesprochen: Wir regieren uns selbst!"
"Wir sind begeistert", sagt Christine Forrest. Sie trägt eine Hose mit Union-Jack-Muster und einen Hut in den Farben der britischen Flagge. "Ich habe Wahlkampf gemacht. Das ist ein ganz tolles Team", lobt sie. "Es wird jetzt alles sicher eine Weile dauern, aber wir werden bald nicht mehr von Brüssel regiert, wir sind wieder unabhängig." Sorgen vor den Konsequenzen hat sie nicht. "Großbritannien kann auch alleine existieren. Man hat auch gesagt, es wäre ein Desaster, wenn wir dem Euro nicht beitreten - und am Ende war es genau das Gegenteil."
Sorgen um die Wirtschaft
Gut einen Kilometer weiter liegt Waterloo Station. In dem riesigen Bahnhof beginnt gerade die morgentliche Rushhour, Menschen hetzen von den Regionalzügen in die U-Bahn. Michael Stainsburry ist auf dem Weg zu Arbeit, nimmt sich jedoch kurz Zeit. Er habe das Ergebnis gerade auf seinem Mobiltelefon gesehen, sagt er. "Ich bin enttäuscht, denn ich habe für den EU-Verbleib gestimmt." Er habe nicht mit diesem Ausgang des Referendums gerechnet. "Das ist ein Sprung ins Ungewisse", sagt er. Besonders die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung mache ihm Sorgen.
Für fast alle Passanten, die gegen den Brexit gestimmt haben, war die Sorge um die britische Wirtschaft das Hauptmotiv. So auch für Jennifer, die ihren vollen Namen nicht nennen will. "Ich sorge mich um die Arbeitsplätze und ich bezweifle, dass wir allein so erfolgreich sind", sagt sie. Sie sei sehr enttäuscht über das Ergebnis. "Wir sind stärker als Team, die Tage des Nationalismus sind vorbei."
Karen Crawford dagegen ist zufrieden mit dem Ergebnis. Sie hat für den Brexit gestimmt. "Wir sind ja in keiner schlechten Situation, aber ich denke, wir können allein noch besser werden." Hauptmotiv für ihre Wahl sei die Einwanderung. Sie lebe in einem Viertel, in dem kaum noch Briten wohnten. "Auf dem Weg zur Arbeit frage ich mich manchmal, in welchem Land wir eigentlich leben. Man fühlt sich gar nicht mehr wie zu Hause."
"Die Menschen werden wütend sein"
Die Menschen, die jetzt für einen Brexit gestimmt haben, werden in einiger Zeit ziemlich wütend sein, glaubt Sam Graham. "Die Einwanderung wird nämlich nicht weniger werden. Wir müssen Verträge über die Freizügigkeit unterschreiben, ganz egal, ob wir EU-Mitglied sind oder nicht." Graham selbst hat für den EU-Verbleib gestimmt: "Ich bin Euro-skeptisch, aber ich musste pragmatisch sein. Die Welt hat sich verändert und wir leben nicht mehr in den 1950ern. Einige glauben das aber", urteilt er über die Brexit-Befürworter.
Insgesamt sei er sehr besorgt. "Wir wissen nicht, was das für die Wirtschaft, die Gesellschaft, die Zukunft des Landes, den Platz Großbritanniens in der Welt, einfach für alles bedeutet." Schottland und Nordirland - beides EU-freundliche Regionen - könnten sich vom Vereinigten Königreich abspalten, befürchet er. "Die Aktien brechen ein, das Pfund bricht ein und außerdem: Was bedeutet das für Europa? Vielleicht sind wir die ersten von vielen."