Brexit: Das dauert
24. Juni 2016Der Wirt des Pubs "The Old Hack" direkt gegenüber der Zentrale der EU-Kommission in Brüssel bleibt gelassen. Ein Austritt Großbritanniens aus der EU nach 43 Jahren Mitgliedschaft werde sein Geschäft nicht groß beeinflussen. "Getrunken wird immer", scherzt der aus Irland stammende Geschäftsmann, während er ein helles Bier zapft. Außerdem würden die britischen Beamten in der EU-Kommission, im Auswärtigen Dienst der EU und im Ministerrat ja nicht schlagartig Brüssel verlassen. Nur einer der Stammgäste werde wahrscheinlich nicht mehr so oft ins "Old Hack" kommen: Nigel Farage, Europa-Abgeordneter der "United Kingdom Independence Party" (UKIP), der seit 1999 für den Austritt seiner Heimat aus der EU kämpft. "Der war oft hier und will noch eine große Abschiedsparty schmeißen", erzählt der Wirt.
Briten könnten weiterarbeiten
Rund 1200 britische Staatsbürger arbeiten in der EU-Kommission. Nur wenige von ihnen, die einen politischen Spitzenposten als Generaldirektor innehaben, oder der EU-Kommissar für den Kapitalmarkt, Jonathan Hill, müssen wohl schnell ihre Posten räumen. Auch der britische Richter am Europäischen Gerichtshof oder der Chef der Polizeibehörde Europol, Rob Wainwright, werden gehen müssen. Alle anderen könnten weiterarbeiten, meint die zuständige Gewerkschaft, denn die Arbeitsverträge seien ja mit den einzelnen Menschen geschlossen worden, nicht mit dem Land Großbritannien. Pierre Bacri von der "Europäischen Beamten-Vereinigung" meint, man werde eine "vernünftige Regelung" finden. Die Brexit-Entscheidung ist eine schlechte Nachricht für die, die einen britischen Pass haben, meint Janis Emmanouilidis von der Denkfabrik "European Policy Centre": "Es könnte trotzdem einen Weg geben, sie weiter als Beamte arbeiten zu lassen. Aber die Jüngeren werden sich fragen, will ich wirklich in der EU arbeiten, wo mein eigenes Land nicht mehr vertreten ist? Was bedeutet das für meine eigene Karriere?"
"Ein Sprung ins dunkle Loch"
Die 73 Europaabgeordneten aus Großbritannien müssen eigentlich auch ihre Koffer packen, aber die Labour-Abgeordnete Dame Glenis Willmott geht davon aus, dass sie fast bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode 2019 wird bleiben können. Denn es werde mehrere Jahre dauern, bis die Modalitäten für einen Austritt aus der EU verhandelt sind und die Beziehungen tatsächlich gekappt werden, so Willmott im Gespräch mit der DW. "Ich nehme an, dass unsere Mitarbeiter bis zum Ende unseres Mandats bleiben können, also bis zur nächsten Europa-Wahl. Aber darüber hat mit uns eigentlich noch niemand gesprochen."
"Unbekannte Gewässer"
Die EU-Kommission und auch der Ministerrat der EU, die Vertretung der Mitgliedsstaaten, hatten sich vor dem Referendum nicht offiziell zu Brexit-Szenarien geäußert. Der entsprechende Paragraf 50 im Europäischen Vertrag von Lissabon sagt lediglich, dass der Mitgliedsstaat schriftlich seine Austrittsabsicht ankündigen muss und dann innerhalb von zwei Jahren die Einzelheiten verhandelt werden sollen. Umstritten ist, ob Großbritannien in dieser Übergangsphase im Rat dann noch mitstimmen darf, ob es in den EU-Haushalt einzahlen muss und ob es noch Zuschüsse aus dem gemeinsamen Haushalt in Brüssel erhält. Aus der EU-Kommission hörte man hinter vorgehaltener Hand, dass Großbritannien im Fall eines Brexits mehr oder weniger sofort von Entscheidungen ausgeschlossen würde. Der EU-Experte Janis Emmanouilidis sieht das anders: "Bei politischen Fragen wird man sehen, ob Großbritannien sich dafür entscheidet, sich nicht mehr zu engagieren. Vom rechtlichen Standpunkt her hätte es das Recht, abzustimmen und teilzunehmen." Emmanouilidis ist sich im Interview mit der DW aber auch nicht ganz sicher, wie Brexit-Verhandlungen laufen werden: "Das gab es noch nie. Man begibt sich in unbekannte Gewässer, die noch keiner erkundet hat."
Rosenkrieg oder gütliche Scheidung?
Die übrigen 27 Mitgliedsstaaten werden Großbritannien den Ausstieg aus der EU nicht allzu leicht machen. Da ist sich Emmanouilidis allerdings sicher. Welches Verhältnis die EU und ein ausgeschiedenes Vereinigtes Königreich in Zukunft pflegen werden, ist unklar. "Es wird ein langer und anstrengender Prozess, von dem wir nicht wissen, wie lange er eigentlich dauern wird. Es ist kein nettes Verfahren." Auch die Europa-Abgeordnete Glenis Willmott ist unsicher, wie es nach einer Scheidung von der EU weitergehen sollte. Die Leute von der 'Austreten'-Seite hätten keine Antworten. Soll es ein Freihandelsabkommen werden, ein Status wie Norwegen? Man habe keine Vorstellung, was passieren werde.
Rückkehr zur EFTA?
Nigel Farage, Brexit-Kämpfer von der UKIP, will, dass ein souveränes Großbritannien weiter Handel mit dem Rest Europas treibt, aber natürlich ohne weiter für Europa zahlen zu müssen. Großbritannien könnte theoretisch wieder der EFTA beitreten. Die EFTA ist eine europäische Freihandelszone, der im Moment Norwegen, Liechtenstein, die Schweiz und Island angehören. Diese Länder genießen freien Zugang zu den EU-Märkten und können an EU-Programmen teilnehmen. Sie dürfen jedoch nicht mitentscheiden. Und sie müssen eine Art Mitgliedsbeitrag zahlen. Norwegen zum Beispiel zahlt nach Angaben der norwegischen Botschaft in Brüssel jährlich 866 Millionen Euro in den EU-Haushalt ein. Würde man diesen Beitrag an die Bevölkerungsgröße und die Wirtschaftsleistung Großbritanniens anpassen, würde sich ein EFTA-Beitrag von fast neun Milliarden Euro ergeben. Das wären nur zwei Milliarden Euro weniger als die heutigen Nettozahlungen des Vollmitgliedes Großbritannien in den EU-Haushalt. Bis zu ihrem Beitritt zur EU im Jahr 1973 waren die Briten schon einmal Mitglied in der Europäischen Freihandelsgemeinschaft.