Neue Biografie: Neuer Blick auf Hitler?
9. März 2020Bücher über Adolf Hitler gibt es eigentlich genug. Gerade in den letzten Jahren sind viele Hitler-Biografien von renommierten Historikern erschienen. Jetzt hat sich mit dem Iren Brendan Simms, Professor für Geschichte der internationalen Beziehungen an der Universität Cambridge, ein weiterer Historiker an das Thema gewagt. Sein über 1000 Seiten dickes Buch ist im Herbst auf Englisch erschienen, jetzt folgt (9.3.) die deutsche Übersetzung.
Eine neue Hitler-Biografie ist in Deutschland immer ein Ereignis. Schon eine Woche vor Erscheinen veröffentlichte das Wochenmagazin "Der Spiegel" ein Interview mit Simms, in dem dieser seine Haupt-These bekräftigte. Und die lautet so: Hitlers Antriebskraft in Innen- wie Außenpolitik sei aus einer Hassliebe zu Anglo-Amerika entstanden. Nicht die Angst vor Bolschewismus und der Sowjetunion sei Triebfeder für Krieg und Vernichtung gewesen, sondern das Kräftemessen mit Großbritannien und den Vereinigten Staaten.
Hitlers Verhältnis zu Anglo-Amerika von Neid und Bewunderung geprägt
Prägend seien dabei Hitlers Erfahrungen während der Jahre 1914 - 1918 gewesen: "Bewunderung und Respekt entsprangen seinen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg. Hitler kam immer wieder auf die Zähigkeit der Briten zu sprechen, wie er sie an der Front erlebt hatte."
Selbst der Antisemitismus sei nicht in erster Linie aus tief empfundenem Hass auf die Juden entstanden, sondern, nachgeordnet, aus dem Konkurrenzkampf mit dem in Amerika ansässigen "Weltkapitalismus" erwachsen. Dort säßen eben Juden an den Schalthebeln der Macht. Muss nun also der Blick auf Hitler und seine Motive neu bewertet werden?
Mehrere profunde Hitler-Biografien haben in den letzten Jahren andere Sichtweisen präsentiert. Als Standardwerk gilt immer noch die zweibändige Hitler-Biografie des Briten Ian Kershaw, erschienen 1998/2000, in denen der Historiker vor allem das Zusammenspiel von Hitler und dem deutschen Volk ins Zentrum stellte. Hitler habe so agieren können, weil ihm die Deutschen "entgegenarbeiteten", also von sich aus der nationalsozialistischen Ideologie den Boden bereitet hätten, so Kershaws These.
Hitler-Biografien gibt es viele - jede setzt andere Akzente
Vor und nach Ian Kershaw haben diverse andere Biografen aus dem In- und Ausland eigene Schwerpunkte gesetzt. Schon 1973 hatte sich der deutsche Publizist Joachim Fest mit Hitler auseinandergesetzt, ihm ein gewichtiges Buch gewidmet, dass lange als Standardwerk galt. Es entwickelte sich nach seinem Erscheinen zum überragenden Bestseller. Später wurden Fest schwerwiegende Fehler bei der Recherche nachgewiesen, auch, weil er sich stark auf die Aussagen Albert Speers, Hitlers ehemaligem Rüstungsminister, verlassen hatte. Der Holocaust wurde von Fest nur am Rande thematisiert.
Der Journalist und Historiker Sven Felix Kellerhof zählte im vergangenen Jahr Fests Buch aber immer noch zu den "sieben wichtigsten Hitler-Biografien": "Manche Sachbücher können Klassiker werden - das ist dann der Fall, wenn sie, obwohl inhaltlich überholt, immer noch lesenswert sind", so Kellerhof. Fests Buch wurde von vielen Seiten eine große literarische Qualität bescheinigt.
Wie Hitler und seine Politik zu deuten sind, darüber stritten lange Zeit zwei Gruppen von Historikern. Die sogenannten "Intentionalisten" sahen in Hitler eine entscheidende, starke Führerfigur, dessen Denken und Ideologie maßgeblich das geprägt habe, was in den Jahren zwischen 1933 und 1945 geschah. Dem gegenüber stehen die sogenannten "Strukturalisten", die eher auf das Mit- und Gegeneinander konkurrierender Gruppen innerhalb des nationalsozialistischen Systems schauten - weniger auf das politische Gewicht Hitlers.
Historiker debattieren bis heute über das Hitler-Bild
Wie der Nationalsozialismus unter Hitler und Co. überhaupt funktionieren konnte, darüber gab es weitere, kontrovers diskutierte Interpretationen: War Hitler überhaupt zurechnungsfähig im Sinne eines rational handelnden Politikers, fragten einige Wissenschaftler? Auch über Hitlers Geisteszustand gab es zahlreiche Veröffentlichungen.
Nun also Brendan Simms Buch "Hitler. Eine globale Biografie". Nach Erscheinen des Bandes im englischsprachigen Raum fielen die Reaktionen zwiespältig aus. "The Guardian" kritisierte vehement die allzu starke Zuspitzung auf die Hauptthese, Hitler habe allein aufgrund seiner Fixierung auf Großbritannien und die USA agiert. Auf der Internet-Plattform "History News Network" bemängelte ein Historiker, dass der Ire von der Annahme ausgehe, Hitler sei "geistig stabil" gewesen, er habe ihn als "rationalen" Menschen dargestellt: "Simms akzeptiert ihn als eine Person, die von einer Ideologie mit einem klar definierten intellektuellen Überbau angetrieben wird, und nicht als einen zutiefst unsicheren, narzisstischen Soziopathen."
Die konservative "National Review" war gnädiger und urteilte, dass Simms Hitlers amerikanischen Blickwinkel zu weit treibe, das Buch aber trotz all seiner Mängel lesenswert sei, wenn auch eher als Beitrag zu einer Debatte denn als abschließende Interpretation der Figur Adolf Hitler. Es sei nicht, wie Simms selbst einräume, "der ganze Hitler".
Brendan Simms spricht selbst von einer möglichen neuen Geschichtswahrnehmung
Und in der Tat: Brendan Simms schreibt zu Beginn, dass "das vorliegende Buch (…) sich in vieler Hinsicht nicht mit seinen Vorgängern messe." Es sei "offensichtlich nicht das erste bedeutende Werk über seinen Gegenstand, noch wird es das letzte sein." Das klingt bescheiden. Nur wenig später schreibt der Autor allerdings selbstbewusst - und von sich in der dritten Person: "Wenn seine Behauptungen sich als tragfähig herausstellen, müsste Hitlers Biografie und vielleicht die Geschichte des 'Dritten Reichs' insgesamt grundsätzlich neu überdacht werden."
Neben der Fixierung auf Politik, Gesellschaft und Kultur der Angelsachsen - fast gebetsmühlenartig kehrt Simms immer wieder auf Hitler und dessen Nachdenken über Briten und Amerikaner zurück - fallen weitere Akzente seiner Geschichtsdeutung auf. Dazu gehören: Frankreich, aber auch die Sowjetunion, spielten bei Hitler nur eine untergeordnete Rolle - eben weil der 1889 in Braunau am Inn (damals Österreich/Ungarn) diese Nationen nicht als Konkurrenz ansah und - im Falle der Sowjetunion - auch lange nicht als Gefahr.
Simms: Adolf Hitler beurteilte das eigene Volk sehr kritisch
Eine weitere Zuspitzung Simms: Hitler habe über die Deutschen in großen Bereichen sehr negativ gedacht - auch nach 1933: "Vom deutschen Volk in seiner Zusammensetzung hielt er weiterhin nicht viel. Er war sich seiner Armut und Ignoranz schmerzlich bewusst", schreibt der Historiker. Bereits zwei Jahre vor Kriegsausbruch habe Hitler den Konkurrenzkampf - mit Blick auf den Lebensstandard der Nationen - mit Anglo-Amerika verloren gegeben: "Im Mai 1937 gestand Hitler die Niederlage im Grunde ein."
Antisemit sei Hitler vor allem aufgrund seiner tiefen Abneigung gegen die kapitalistische Weltmacht USA: "Tatsächlich wurde er zum großen Teil wegen seines Hasses auf die kapitalistischen anglo-amerikanischen Mächte zum Antisemiten."
Hitlers Verhältnis zum anglo-amerikanischen Raum sei voller Widersprüche. So habe er sich schon in früheren Jahren geradezu neidvoll geäußert: "Ein Hauptgegenstand seines Interesses waren die Vereinigten Staaten, die er, vielleicht noch mehr als das britische Empire, als Modelstaat zu betrachte begann." Das hatte vor allem mit Hitlers Blick auf angebliche geografische Vorteile der Amerikaner zu tun. Im Übrigen auch, weil das Land eine Nation sei, die ihre Existenz ausgewanderten Deutschen verdanke. Die Amerikaner hätten sich den "Lebensraum" im Westen des Kontinents erobert; deswegen, so Simms, habe Hitler auf neuen "Lebensraum" für die Deutschen im Osten des Kontinents Europa gedrängt.
Hitler wollte Deutschland als Widerpart zur Weltmacht Amerika etablieren
Hitler habe lange im Sinn gehabt, "nur" eine deutsche Großmacht in Europa zu etablieren, mehr habe er nicht angestrebt. Er habe ein Gegengewicht zur Weltmacht USA gewollt: "Hitlers Ziel war durchweg nicht die Weltherrschaft, sondern das nationale Überleben."
Simms Fazit: "Hitlers gesamte Strategie hatte letztendlich bis zum Ende darin bestanden, die Gefahr des Bolschewismus zu benutzen, um auf Deutschland, Europa und vor allem Anglo-Amerika politisch Einfluss zu nehmen." Das ist eine kühne These. Sie dürfte ab sofort die Historiker beschäftigen. Nicht nur in Deutschland.
Zum Weiterlesen: Brendan Simms: Hitler - Eine globale Biografie, DVA 2020, 1050 Seiten, ISBN 978-3-421-04664-2.