Wettlauf mit der Zeit
12. Juni 2013Manchmal scheint es, als hätte der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig den Brasilianern die DNA ausgelesen, als er einem seiner Bücher den Titel "Brasilien. Ein Land der Zukunft" gab. Nur nach vorne scheint der Blick der Brasilianer derzeit zu gehen. Vergessen ist das lange schmerzhafte Trauma von 1950, als Brasiliens Nationalelf die WM im eigenen Land im entscheidenden Spiel verlor. Stattdessen herrscht die pure Euphorie: Wer die fußballverrückten Fans der Seleção nach dem Weltmeister 2014 fragt, bekommt nur eine Antwort: "Brasilien!" Das Land strotzt vor Optimismus, obwohl weder die Vorbereitungen der Nationalelf noch die der WM-Organisatoren nach Plan verlaufen.
Ein Jahr vor dem Eröffnungsspiel der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 bleiben Brasiliens Stadien die Sorgenkinder der FIFA - auch die Spielstätten des Confederations Cups, der als Generalprobe für die WM gilt. Denn de facto gibt es bei allen Probleme: In Rio versperrte Bauschutt Zugänge, in Salvador musste ein Stück vom Stoffdach geflickt werden, in Recife sind die Zugänge von der U-Bahn ins Stadion noch nicht fertig, in Fortaleza hapert es an den Zufahrtsstraßen und in Belo Horizonte scheinen die Behindertenzugänge nicht ganz so barrierefrei zu sein wie gewünscht. Selbst beim prestigeträchtigen neuen Nationalstadion in Brasília, in dem am 15. Juni der Confederations Cup eröffnet wird, gab es erhebliche Bauverzögerungen. Immerhin: Alle sechs Arenen der WM-Generalprobe haben gerade noch rechtzeitig die Freigabe erhalten. Drumherum wird derweil fleißig weiter gearbeitet.
Alle anderen WM-Stadien befinden sich ohnehin noch im Bau. Die größten Sorgen bereitete der FIFA zuletzt ausgerechnet die "Arena de São Paulo", in der am 12. Juni 2014 die WM eröffnet werden soll. Dort kam es wegen Rechtsstreitigkeiten zu einem Baustopp. Erst als FIFA-Generalsekretär Jérôme Valcke der geschäftigen Metropole damit drohte, sie könnte ihren Status als WM-Stadt verlieren, fruchtete ein Treffen zwischen den zerstrittenen Beteiligten - und alles sollte nur noch ein "Missverständnis" gewesen sein. Valcke twitterte im Anschluss: "Die Frist für die Abgabe der Arena ist im Dezember 2013. São Paulo wird ein gutes Beispiel abgeben." Vielleicht hat sich der Franzose vom brasilianischen Optimismus anstecken lassen.
Kommen die Investitionen zu spät?
Wie bei den Stadien scheint Brasilien auch bei der Modernisierung der Infrastruktur die Zeit davon zu laufen. Brasiliens Straßen sind notorisch verstopft, und der öffentliche Nahverkehr ist schon im Alltag überfordert, denn: "Der Massentransport hatte Jahrzehnte lang keine Priorität für die Politik, weil nur die armen Menschen von ihm abhängig waren", erklärt die Urbanistik-Professorin Raquel Rolnik, die einen umfangreichen Ausbau der Infrastruktur für unumgänglich hält - unabhängig von den Großveranstaltungen WM und Olympische Spiele, zu denen insgesamt 28 Millionen Besucher erwartet werden.
Inzwischen hat auch die Regierung das Problem erkannt. Mit günstigen Krediten in Höhe von 52 Milliarden Euro will sie nun die Privatwirtschaft zum Ausbau der Infrastruktur motivieren. Die nationale Förderbank BNDES schätzt, dass zwischen 2013 und 2016 rund 70 Milliarden allein in Straßen, Schienen und Flughäfen fließen werden - mehr als doppelt so viel wie in den Jahren zuvor. Doch für die Weltmeisterschaft kommt dieses Förderprogramm wohl zu spät. Kurzfristige Lösungen suchen viele WM-Städte deshalb in exklusiven Busspuren, auf denen die Fans in die Stadien gefahren werden, oder darin, den Schulen freizugeben, wenn ein Spiel in der Stadt ansteht.
Dass die Defizite im Verkehrssystem zulasten der WM-Fans gehen, glaubt die Verkehrsexpertin Rolnik daher nicht: "Vom Flughafen zum Hotel und vom Hotel ins Stadion wird der Verkehr laufen." Leidtragende, meint sie, würden deshalb eher die Bewohner sein, deren alltägliches Vorankommen auf diese Weise zusätzlich erschwert werde. Ein nachhaltiges Handeln der Infrastruktur-Planer sei nicht erkennbar.
"Keine No-Go-Areas"
Seit dem Bomben-Anschlag auf den Boston-Marathon stellt sich umso mehr die Frage nach einem schlüssigen Sicherheitskonzept für die WM. Die brasilianische Bundesregierung hat dafür ein Budget von rund 400 Millionen Euro bereitgestellt, die dem WM-Sicherheitsbeauftragten Valdinho Caetano zufolge vornehmlich in die Ausbildung weiterer Sicherheitskräfte und modernes Equipment investiert werden sollen: "Wir haben Bombendetektoren und Kommandozentralen, die über ein Kommunikationssystem mit Kameras, Hubschraubern und den Einheiten auf der Straße verbunden sind." Zur Überwachung des Luftraums hat Brasilien 34 gebrauchte Flugabwehrpanzer von der deutschen Bundeswehr gekauft.
Außerdem sollen Vertreter aller staatlichen Sicherheitsorgane in zwei nationalen und zwölf regionalen Sicherheitszentren - eins in jeder Gastgeberstadt - Hand in Hand arbeiten. Über Hunderte von Monitoren werden sie von dort aus versuchen, alles zu überwachen, was mit der Weltmeisterschaft zu tun hat. Neben der Terrorabwehr sollen diese Zentralen auch friedliche Fans vor gewaltbereiten Hooligans schützen.
Doch bei den Sicherheitsmaßnahmen geht es auch um die Vermeidung von Verbrechen wie Raubüberfällen oder Vergewaltigungen, wie sie vor allem in den Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro immer wieder vorkommen. Sicherheitschef Caetano glaubt, das Problem in den Griff zu bekommen. Er gibt ein ehrgeiziges Ziel aus: "Es wird keine No-Go-Areas für die Fans geben. Wir haben ein Sicherheitskonzept für das ganze Land und alle Touristen werden sich frei bewegen können", verspricht er im DW-Interview. Ob diese Maßnahmen dazu führen, dass die WM-Touristen auch die Favelas besuchen werden?
Sonderfall Rio de Janeiro
Gerade in Rio de Janeiro reicht es nicht, ein Sicherheitskonzept für Fußballfans zu entwickeln. Denn die Stadt am Zuckerhut wird auch Gastgeber des Weltjugendtags 2013 und der Olympischen Spiele 2016 sein, die an Schauplätzen in der ganzen Stadt stattfinden werden. Hinzu kommt: Die Armenviertel, die Sicherheitsexperten als Keimzelle der Gewalt gelten, liegen nicht wie in anderen Städten vor allem in Randlagen, sondern verteilt über die ganze Stadt.
Vor fünf Jahren hat die Stadtverwaltung deshalb begonnen, diese Stadtteile sukzessive zu "befrieden". Das bedeutet: Die Polizei verjagt - notfalls in blutigen Schusswechseln und mit Unterstützung des Militärs - die ansässigen Drogenbanden und installiert die sogenannte "Friedenspolizei" UPP. Zunächst eroberte man vor allem die Slums in der Nähe des Zentrums und der mondänen Strände von Ipanema und Copacabana. Inzwischen ist die UPP auch in entfernteren Favelas wie der Cidade de Deus vertreten, die durch den Film "City of God" berühmt geworden ist.
Das Konzept scheint vorerst aufzugehen: In ortskundiger Begleitung können Touristen inzwischen viele der ehemals als unbetretbar geltenden Favelas besichtigen. Kritiker bemängeln allerdings, dass auch die UPP wegschaue, wenn weiterhin mit Drogen gedealt werde. Bewohner berichten teilweise sogar von einem Anstieg von Überfällen und Vergewaltigungen, seit die rigorosen Drogenbosse ihr Gewaltmonopol aufgeben mussten. Zudem befürchten sie, dass diese Maßnahmen spätestens mit dem Ende der Olympischen Spiele 2016 auslaufen könnten.
Hoffnung auf den sechsten WM-Titel
Bis dahin aber wird Brasilien Schauplatz historischer Sportmomente geworden sein. Denn trotz aller Skepsis und Kritik: In Brasilien findet man kaum jemanden, der sich nicht auf das Turnier freut. Vor allem in den WM-Städten sind die Bewohner stolz und froh, dass die Welt zumindest für eine Zeit lang alle Augen auf ihr Land richten wird. Dem Land, das im Sommer 2014 sechsfacher Weltmeister werden soll - zumindest wenn es nach den Gastgebern geht.