Brasiliens Kampf um die Corona-Zahlen
9. Juni 2020Die Blockade dauerte nur vier Tage. An diesem Montagmorgen kündigte Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro an, künftig doch wieder detaillierte Daten zur Entwicklung der COVID-19-Pandemie in Brasilien zu veröffentlichen.
Erst am vergangenen Freitag hatte das brasilianische Gesundheitsministerium erklärt, nur noch neu registrierte Infektionen, Genesungen und Todesfälle zu veröffentlichen. Die Aufschlüsselung nach Bundesstaaten sowie die aufaddierten Zahlen seit der ersten COVID-19-Infektion im Land tauchten nicht mehr auf.
Zudem hatte sich die Veröffentlichung der Daten immer weiter in den Abend verschoben, zuletzt auf 22 Uhr - also hinter die Abendnachrichten. Diese Praxis soll laut Präsident Bolsonaro beibehalten werden: Die Zeit sei adäquat, und man werde sich dabei nicht nach dem Fernsehprogramm richten.
Auch bei der Zählung der Todesopfer wolle man weiterhin nur die diejenigen angeben, die in den zurückliegenden 24 Stunden verstorben seien und bei denen am selben Tag COVID-19 als Todesursache bestätigt worden sei. Dies bedeutet: Wenn die Bestätigung der Todesursache später kommt, und dies ist nicht selten, fließen die Opfer nicht mehr in die Tagesstatistik ein.
Autoritäre Tendenzen
Nach einem Bericht der Zeitung "Valor Econômico" haben Militärs in führenden Positionen des Gesundheitsministeriums die neue Bemessungsmethode durchgedrückt. "Solche Methoden", sagt Oliver Stuenkel, Politikwissenschaftler der Universität Fundação Getúlio Vargas (FGV), "sind typisch für Länder mit autoritären Tendenzen wie Russland und Venezuela".
Die Blockade-Strategie der brasilianischen Regierung löste nicht nur Proteste in der Zivilgesellschaft aus, sondern rief auch die Bundesstaaten auf den Plan. Der Präsident liegt mit vielen Bundesstaaten im Clinch, die im Kampf gegen die Pandemie zum Teil wesentlich strengere Einschränkungen verhängt haben, als es dem Präsidenten lieb ist.
So kündigte der Nationale Rat der Gesundheitssekretäre (CONASS) an, die Daten fortan selbst zu veröffentlichen. Bisher hatte er die Zahlen aus den Bundesstaaten an das Gesundheitsministerium in Brasília zur Veröffentlichung übermittelt. CONASS-Präsident Alberto Beltrame erklärte: "Der autoritäre, unsensible, inhumane und unethische Versuch, die COVID-19-Toten unsichtbar zu machen, wird scheitern."
Verwirrung und Manipulation
Der Gegenwind der Gesundheitssekretäre könnte der Auslöser dafür gewesen sein, dass die Regierung die Kehrtwende vollzogen hat, meint FGV-Analyst Stuenkel: "Bolsonaro musste befürchten, dass keiner mehr die Seite des Gesundheitsministeriums konsultieren und ihm die Kontrolle über die Debatte entgleiten würde."
Stuenkel vermutet: "Bolsonaro versucht, das Ausmaß der Krise zu verschleiern, weil er sich in einem Umfragetief befindet." Dabei nutze er die Zahlen, um seine Taktik der Polarisierung voranzutreiben: "Er sagt im Prinzip: Jeder hat das Recht auf seine eigenen Daten."
Ganz ähnlich sieht es der brasilianische Ökonom Filipe Campante von der US-Universität Johns Hopkins: "Vermutlich will die Regierung niemanden ernsthaft von ihren Zahlen überzeugen. Es geht wohl eher darum, allgemeine Verwirrung zu stiften, damit die Leute sich irgendwann frustriert ausklinken."
Internationale Isolation
Dieses Verhalten könnte fatale Auswirkungen auf die brasilianische Außenpolitik haben, vermutet Bruno Brandão, Ökonom und Außenexperte der Universidade Federal de Minas Gerais: "Die Unterdrückung und Manipulation von Informationen gefährdet die Glaubwürdigkeit eines Landes in der internationalen Gemeinschaft." Die Annäherung an die OECD und die Verhandlungen über Handelsabkommen mit dem Mercosur und der Europäischen Union seien damit akut gefährdet.
Bolsonaro scheint die Gefahr der internationalen Isolation in Kauf zu nehmen. Am vergangenen Wochenende verkündete er, möglicherweise dem Beispiel von US-Präsident Donald Trump zu folgen und die Mitgliedschaft seines Landes in der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aufzukündigen. Brandão: "Das wäre ein weiterer Schritt, Brasilien zu isolieren und zu einem Paria der internationalen Gemeinschaft zu machen."