Graffitis zwischen Euphorie und Protest
27. Juni 2014Vier Kilometer WM-Euphorie schlängeln sich durch São Paulo. Eine nicht enden wollende Wand voll bunter Graffitis führt die Fußballfans entlang der meist befahrenen Straße der Stadt bis hin zum Itaquerão-Stadion. Ein Projekt des Bundesstaates São Paulo und eines internationalen Sportartikelherstellers. "4KM" heißt es und wurde extra für die FIFA-WM 2014 in Brasilien ins Leben gerufen.
João Cardoso wohnt in der Gegend um das Graffiti, jeden Tag kommt er an ihnen vorbei. Wenn er seine Runden auf dem Fahrradweg zieht, sieht er übergroße Fußballschuhe, die einen rot-weißen Ball schießen oder die verschiedenen Flaggen der teilnehmenden Mannschaften - bunt illustriert, mal meterhoch an einer Hauswand, mal ganz klein. "Ich mag diese Bilder, sie sind wirklich schön", sagt Cardoso. "Nur mit der WM bin ich nicht glücklich."
Mit diesen beiden kurzen Sätzen hat der junge Brasilianer das Dilemma, in dem die brasilianische Gesellschaft sich gerade befindet, auf den Punkt gebracht. Die einen wollen in Ruhe die WM genießen, die anderen bestehen weiter auf ihren Forderungen und brüllen 'Es wird keine WM geben' auf den Straßen und beschweren sich über die FIFA.
"WM - ja oder nein?" Diese Frage zieht sich bis in die Graffiti-Szene São Paulos. Die Megametropole im Südosten Brasiliens ist eine der bedeutendsten Städte, wenn es um die Kunst des Graffiti weltweit geht.
Nicht die WM für Missstände verantwortlich machen
Diego Zéfix ist einer der 70 Künstler, die an der langen Wand in São Paulo mitgearbeitet haben. Der 29-Jährige glaubt, dass man die WM nicht für die sozialen Missstände im Land verantwortlich machen kann. "Ich mag Fußball. Das Problem ist nicht die FIFA, unser Land ist das Problem. Jetzt, wo die WM da ist, sollten wir das Beste daraus machen", sagt Zéfix.
Auch Fabio Oliveira - in der Graffiti-Szene besser bekannt unter seinem Spitznamen "Crânio" - hat sich beim Projekt "4KM" in São Paulo verewigen dürfen. Er setzte sich gegen 380 weitere Bewerber durch - und das obwohl er bereits zahlreiche FIFA- und WM-kritische Bilder gesprüht hat. Doch Oliveira sieht darin keinen Widerspruch. WM-Kritik und Fußball-Passion sind für ihn zwei verschiedene Dinge.
"Auf manchen meiner Bilder zeige ich die negative Seite: Dass die Brasilianer sich verkauft haben mit dieser WM und dass wir uns Verbesserungen davon erhofft hatten", sagt Oliveira. "Aber ich zeige auch Menschen, die den Fußball wirklich lieben, die Spaß haben und alles tun, um die Spiele zu sehen."
Oliveira glaubt, dass Projekte wie "4KM" wichtig sind, um den Straßenkünstlern der Stadt mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen - besonderes den jüngeren unter ihnen.
WM-kritisches Graffiti rund um den Globus bekannt
Seine Graffitis hätten es auf keinen Fall auf die Wand geschafft, die vor WM-Euphorie nur so strotzt. Paulo Itos Bilder zählen derzeit zu den bekanntesten brasilianischen Graffitis weltweit. Ein Bild wurde besonders berühmt: Ein dünner schwarzer Junge sitzt weinend am Essenstisch. Auf dem Teller liegt nicht die nächste Mahlzeit, sondern ein Fußball. Das Bild prangert die FIFA und die brasilianische Regierung an und zeigt, wer unter den Entscheidungen der Oberen leiden wird. Menschen rund um die Welt teilten Fotos, die das Bild zeigen, in sozialen Medien. Zeitungen druckten es ab, Fernsehteams filmten es.
"Das Bild sollte die Frage aufwerfen wo in unserer brasilianischen Gesellschaft die Prioritäten sind. Das war meine Intention", sagt Ito. Der 36-Jährige sagt von sich selbst er sei kein besonders großer Fußballfan. "Mit dem Bild wollte ich aufmerksam auf die negativen Aspekte des Großevents WM machen." Er sei zwar nicht gegen die WM an sich, aber gegen die Art und Weise wie die FIFA diese umgesetzt hat, so Ito. Aus diesem Grund habe er sich auch nicht an dem Mega-Projekt "4KM" des Bundesstaates São Paulo beteiligt.
Trotzdem verurteilt Ito die Künstler, die an der Wand mitgearbeitet haben, nicht: "Ich habe nicht teilgenommen, weil es gegen meine Ideologie ist. Doch jeder hat einen anderen Grund, Graffitis zu sprühen." Außerdem könne man nicht die Tür vor jedem Auftraggeber verschließen, schließlich müsse man ja von etwas leben, so Ito.
Die 70 Künstler, die an der Wand mitgearbeitet haben, wurden für ihre Arbeit bezahlt. Carolina Fontes, Koordinatorin von "4KM", betont, dass man die Graffitikünstler mit dem Projekt habe unterstützen wollen. Gleichzeitig hätte São Paulo nun eine neue Touristenattraktion.
Und zumindest in einer Frage sind sich Kritiker wie Unterstützer der WM einig: Die Wand bringt ein bisschen Farbe in das graue Stadtbild der Megametropole São Paulo.