Brasilien: Sind Bolsonaros Tage gezählt?
31. März 2021Er läuft jede Nacht von der brasilianischen Botschaft in Berlin bis zum Brandenburger Tor. Der Deutsch-Brasilianer Rafael Pütter hat es eilig. Als Sensenmann verkleidet verkündet er um drei Uhr morgens in Berlin die tägliche Zahl der Corona-Toten in Brasilien.
Am Dienstag gab es einen neuen Negativrekord zu verzeichnen: 3.780 Verstorbene an einem Tag. "Ich will nicht, dass noch mehr Leute sterben. Wenn sich in Brasilien eine gefährliche Mutation verbreitet, ist dies auch weltweit gefährlich", sagt Rafael Pütter im Gespräch mit der DW. Denn das Virus werde sich schnell auch außerhalb Brasiliens verbreiten.
"Ich klage Bolsonaro an"
Der 35-jährige Künstler und Kommunikationswissenschaftler greift zu einer drastischen Inszenierung: Er spielt bei seinen nächtlichen Rundgängen einen erschöpften Sensenmann als "offiziellen Mitarbeiter der brasilianischen Regierung, die den Tod ihrer Bevölkerung vorantreibt". Pütter: "Ich klage Bolsonaro an: Er betreibt gesundheitspolitischen Terrorismus."
Brasiliens Präsident steht in Deutschland und international für seine Pandemiepolitik am Pranger. Und auch in Brasilien wird es zunehmend einsamer um den rechtsextremen Präsidenten, der Corona als "kleine Grippe" bezeichnet hat und nur ungern Masken trägt. In den vergangenen Tagen hat sich die Lage im größten Land Südamerikas dramatisch zugespitzt.
Erstmals in der Geschichte Brasiliens traten am Dienstag alle drei Chefs der Streitkräfte, Luftwaffe, Marine und Heer, gleichzeitig zurück. Zuvor hatte der Präsident mal wieder sein Kabinett umgebaut: Sowohl Verteidigungsminister Fernando Azevedo, als auch Außenminister Ernesto Araújo und Gesundheitsminister Eduardo Pazuello mussten gehen.
Angst vor Amtsenthebung
Immer stärker drängt sich die Frage auf: Wie lange kann sich Bolsonaro im Corona-Chaos noch an der Macht halten? Ausgerechnet der Präsident des brasilianischen Kongresses, Arthur Lira, der als Unterstützer des Präsidenten gilt, deutete kürzlich unverhohlen die Möglichkeit eines Amtsenthebungsverfahrens gegen das Staatsoberhaupt an.
In einem von der brasilianischen Presse zitierten Statement im Kongress erklärte er: "Die politischen Mittel eines Parlaments sind bekannt und bitter, einige sogar fatal. Sie werden häufig dann angewendet, wenn sich eine Spirale von Fehlentscheidungen nicht mehr kontrollieren lässt."
An Anträgen für eine Amtsenthebung Bolsonaros mangelt es nicht. In der Schublade des Parlamentspräsidenten stapeln sich bereits Dutzende solcher Gesuche. Arthuro Lira muss prüfen, ob er sie zur Abstimmung im Abgeordnetenhaus zulässt. Fünf der Anträge hat Arthuro Lira bereits abgelehnt. Über die anderen muss jedoch noch entschieden werden. Der Politikwissenschaftler Valeriano Costa von der Universität Campinas hält angesichts der steigenden Zahlen von Corona-Infektionen und Todeszahlen ein Impeachment nicht mehr für ausgeschlossen.
"Keiner traut sich"
"Es war noch nie so wahrscheinlich wie jetzt", sagt er im DW-Gespräch. Gleichzeitig herrsche im Kongress jedoch eine enorme Angst vor den Konsequenzen einer solchen Entscheidung.
"Die Abgeordneten fürchten sich vor den Reaktionen der Anhänger des Präsidenten, vor Aufständen und Attentaten der Miliz oder der Militärpolizei", so Costa. "Es ist eine schreckliche Situation: Die Lage wird immer schlimmer, und keiner traut sich, etwas zu machen."
Zwar halten seine treuesten Anhänger weiterhin zu Bolsonaro, doch insgesamt sinken die Zustimmungswerte für den Präsidenten seit Beginn des Jahres kontinuierlich. Nach Angaben des Meinungsforschungsinstitutes Datafolha war Mitte März über die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung (54%) unzufrieden mit seiner Bekämpfung der Pandemie, im Januar waren es noch 48 Prozent.
Auch die Wirtschaft distanziert sich von Bolsonaro. In einem offenen Brief an die brasilianische Regierung kritisierten kürzlich über 200 Großunternehmer und auch ehemalige Zentralbankchefs die Pandemiepolitik und mahnten einen Kurswechsel und mehr Verantwortung an.
Zeichen der Hoffnung
Rafael Pütter kann die negativen Nachrichten aus Brasilien kaum noch verkraften. In zwei Wochen will er mit seinen nächtlichen Rundgängen aufhören und dann für jeden Corona-Toten aus seiner Heimat Brasilien einen Sonnenblumenkern aussähen.
"Wir brauchen auch Zeichen der Hoffnung", sagt er. "Wir müssen aus diesem Teufelskreis ausbrechen. Deshalb möchte ich neben der Trauer auch ein Zeichen für einen Neuanfang setzten."