Brasilien, Retter verzweifelt gesucht
24. Mai 2016Nur zwölf Tage nach der Amtsenthebung von Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff wird die Übergangsregierung ihres Stellvertreters Michel Temer bereits von ihrem ersten Skandal erschüttert. Was bis vor einigen Tagen noch völlig undenkbar schien, scheint nun auf einmal nicht mehr ausgeschlossen: Rousseffs Rückkehr in den Regierungspalast.
"Wenn Dilma zurückkehrt und Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva eine strategische Funktion im Kabinett übernähme, wäre dies die einzige kurzfristig denkbare Lösung", meint der brasilianische Politikwissenschaftler Valeriano Costa, Direktor des Zentrums für politische Meinungsforschung an der Universität Unicamp. "Lula könnte es schaffen, einen Pakt mit den politischen Eliten auszuhandeln, der das linke Parteienspektrum mit einschließt und die Regierungsfähigkeit bis zu den Wahlen 2018 garantiert."
Costa ist sich darüber im Klaren, dass dieses Szenario Anfang der Woche noch völlig undenkbar war. Doch nach der Amtsniederlegung von Brasiliens Planungsminister Romero Jucá hat sich die politische Lage gedreht. Die Zwei-Drittel-Mehrheit im brasilianischen Senat, die für eine endgültige Amtsenthebung von Präsidentin Rousseff nötig ist, wackelt. Wenn zwei Senatoren absprängen, käme sie nicht mehr zustande.
Aufklärung, nein danke!
Der brasilianische Planungsminister Romero Jucá hatte am Dienstag vorübergehend sein Amt niedergelegt. Grund war die veröffentlichte Mitschrift eines kompromittierendes Telefonats in der brasilianischen Tageszeitung "Folha de São Paulo". Darin hatte Jucá eingeräumt, dass die Amtsenthebung Dilma Rousseffs notwendig sei, um brasilianische Politiker vor weiteren Anti-Korruptions-Ermittlungen zu bewahren. Auch gegen Jucá ermittelt die brasilianische Staatsanwaltschaft wegen Korruption.
Die Veröffentlichung des Mitschnitts schlug in Brasilien wie eine Bombe ein. "Der Mitschnitt zeigt, dass die Amtsenthebung Dilmas nichts mit dem Kampf gegen Korruption zu tun hatte", kommentiert der Historiker und Landtagsabgeordnete Marcelo Freixo in seiner Kolumne in der Zeitung "Folha de São Paulo". "Wenn sie bestätigt wird, dann sind der einzige Ausweg Neuwahlen und die Mobilisierung der Gesellschaft für eine tiefgreifende Reform-Agenda."
Für Politikwissenschaftler Costa sind Neuwahlen hingegen ein unwahrscheinliches Szenario. Denn dann müssten sowohl Dilma Rousseff als auch ihr Vize Michel Temer zurücktreten oder einer Straftat überführt werden. Doch selbst wenn es dazu kommen sollte, würde dies nach Ansicht Costas kaum etwas an der verfahrenen politischen Lage in Brasilien ändern.
Reformen, nein danke!
"Derselbe Wähler, der bei den Präsidentschaftswahlen für die Linkspolitiker Lula da Silva und Dilma Rousseffs gestimmt hat, hat auch die konservativen Politiker Michel Temer und Eduardo Cunha ins Parlament gewählt", erklärt Costa. Der Kongress sei immer konservativ gewesen, daran würden auch Neuwahlen nichts ändern.
"Brasilien hat sich modernisiert, ist wirtschaftlich aufgestiegen, viele Dinge haben sich verbessert, nur das alte politische System hat sich nicht verändert. Es ist noch immer wie 1930, das ist das große Problem", sagt der Politikwissenschaftler. Vielleicht sei jetzt der Moment gekommen, wo sich wirklich etwas ändern müsse.
Wie es weiter geht, vermag zurzeit niemand vorherzusagen. Vieles spricht dafür, dass sich die Regierungskrise in Brasilien weiter verschärft, denn für die nächsten Tage sind weitere Enthüllungen von kompromittierenden Telefonaten angekündigt, darunter mit Brasiliens Ex-Präsident José Sarney und dem Senatspräsidenten Renan Calheiros.
Kritik, nein danke!
In die Korruptionsaffäre um den staatlichen Mineralölkonzern Petrobras sind nach Medienberichten gut die Hälfte aller brasilianischen Kongressmitglieder verwickelt. Auch etliche Minister im Kabinett - sowie Vize Michel Temer selbst -stehen im Verdacht, Bestechungsgelder entgegengenommen zu haben. Im Zuge der "Operation Waschstraße", wie die Ermittlungen im Petrobras-Skandal in Brasilien genannt werden, wurden bereits zahlreiche hochrangige Politiker zu Haftstrafen verurteilt.
Temer selbst will von einer Regierungskrise nichts wissen. Im brasilianischen Kongress wehrte er sich am Dienstag gegen die in der Öffentlichkeit geäußerte Kritik, er sei schwach und regierungsunfähig. "Alles Gerede! Ich war zweimal Minister für öffentliche Sicherheit im Bundesstaat São Paulo und musste mich damals mit Verbrechern herumschlagen", sagte er und schlug mit den Händen auf den Tisch. "Ich weiß also, was zu tun ist."