Brasiliens Kampf gegen die Gewalt
10. Juni 2013Das Verbrechen an einer US-Amerikanerin und ihrem französischen Freund schockiert über die Grenzen Brasiliens hinaus: Auf ihrem Weg vom wohlhabenden Stadtteil Copacabana ins Ausgehviertel Lapa waren zwei Anfang 20-jährige Sprachstudenten in einen der Kleinbusse gestiegen, die in Brasilien privat betrieben werden und das öffentliche Verkehrsnetz ergänzen. Kurz darauf forderte die dreiköpfige Besatzung die übrigen Fahrgäste zum Verlassen des Busses auf. Es folgte eine sechsstündige Fahrt durch die Stadt, während die Täter die junge Frau wiederholt vergewaltigten, ihren Begleiter mit einer Eisenstange verletzten und beide ausraubten.
Der Tathergang weckt Erinnerungen an die tödliche Vergewaltigung einer Inderin in einem Omnibus in Delhi und den brutalen Überfall auf ein Schweizer Pärchen im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh. Doch das internationale Aufsehen hat noch einen weiteren Hintergrund: Wie sicher ist Rio de Janeiro wenige Monate vor dem Weltjugendtag im Sommer, vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 und vor den Olympischen Spiele 2016, deren Gastgeber die Stadt sein wird?
Aufpoliertes Image
Lange galt Rio de Janeiro als eine der gewalttätigsten Städte Lateinamerikas, sogar der Welt. Doch in den letzten Monaten drangen immer wieder Erfolgsmeldungen vom Zuckerhut in die Welt hinaus.
Die Stadtverwaltung hat immense Mittel bereitgestellt, um größere Sicherheit für die Touristen zu schaffen: Mit Hilfe von Soldaten wird seit einigen Jahren sukzessive die Drogenmafia aus den zentral gelegenen "Favelas" vertrieben, also den Stadtteilen nahe der Touristenzentren. Wo jahrzehntelang ein Mafia-Staat im Staate herrschte, vertritt nun eine Sondereinheit der Polizei das Gesetz. Die frisch ausgebildeten Einsatzkräfte der UPP, der "friedensstiftenden Polizeieinheit", sollen eher als Sozialarbeiter, denn als Sheriffs auftreten. Und nach anfänglichen Widerständen seitens der Bürger scheint das Konzept inzwischen einigermaßen aufzugehen. Im Rahmen von Führungen können sogar Touristen die Slums inzwischen betreten.
Gewalt bleibt ein Problem
Allerdings hat die Befriedung der Favelas nur bedingt etwas mit Überfällen in anderen Teilen der Stadt zu tun. "Die Staatsgewalt konzentriert sich dabei vor allem auf den Drogenhandel", meint Antônio Testa, Professor für Öffentliche Sicherheit von der Universität Brasilia.
Dass Rio, Brasilien und im Prinzip der ganze amerikanische Kontinent ein Gewaltproblem haben, ist nichts Neues. Schon in der Vergangenheit wurden in Copacabana Touristen überfallen. Allgemein bekannt ist beispielsweise die Gefahr bei nächtlichen Spaziergängen am weltbekannten Strand des Stadtteils. Auch öffentliche Verkehrsmittel sind beliebte Ziele von Raubzügen. Normalerweise gehe es dabei aber um das Einsammeln von Bargeld, sagt Marilene de Paula von der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro. Extreme Gewalt - wie die am Wochenende gegenüber den Sprachtouristen - sei sonst nicht an der Tagesordnung.
Keine gesteigerte Gefahr
Für Touristen und Fußballfans bestehe keine größere Gefahr als bisher. Im Gegenteil, meinen die Experten. Der Soziologe Testa: "Dieser Fall wird die Politik noch einmal wachrütteln und dazu veranlassen, noch mehr für die Sicherheit in Rio und auch den anderen WM-Städten zu tun." Außerdem seien nun auch die Touristen gewarnt. "Man muss in Brasilien aufpassen, wem man vertraut, wie man sich bewegt und wo."
Auch da Paula von der Heinrich-Böll-Stiftung weist auf das Engagement der Behörden hin: "Es ist nicht das erste Gewaltverbrechen gegen Touristen in Rio. Aber die Polizei hat schnell reagiert und die Täter gefasst."
Mehr Vergewaltigungen angezeigt
Im Zusammenhang mit der Vergewaltigung am Samstag berichteten diverse Medien über den Anstieg gemeldeter Vergewaltigungen in Rio de Janeiro: Alleine von 2011 auf 2012 betrug er fast ein Viertel, von 4917 auf 6029. Doch diese Zahlen bedeuten nicht, dass insgesamt mehr Frauen Opfer dieses Verbrechens wurden, sagt der Soziologe Testa. Dass mehr Fälle gemeldet wurden, sei einer breit angelegten Aufklärungskampagne über verschiedene Medien und Institutionen zu verdanken. Die ermutige Frauen, Vergewaltigungen - vor allem durch bekannte Menschen - zur Anzeige zu bringen. Denn bei mehr als 60 Prozent der gemeldeten Fälle kennen die Opfer ihre Peiniger.
Bittere Ironie der Entwicklungen in den vergangenen Jahren: Gerade dort, wo die Stadt für mehr Sicherheit sorgen wollte, scheint nun das Gegenteil der Fall zu sein. In den Armenvierteln klagen Bewohner über mehr Sexualverbrechen und Überfälle. Unter der Herrschaft der Drogenmafia habe es das nicht gegeben. Antônio Testa kann das erklären: "Drogenbanden tolerieren keine Gewalt unter den Bewohnern der Favelas. Und Vergewaltiger bestrafen sie mit dem Tod."