Bonn inszeniert Beethovens "Fidelio" radikal
2. Januar 2020Erstaunlich, wie gut die Ouvertüre als Begleitmusik zu Filmsequenzen passt: Auf dem großen Bildschirm wechseln friedliche Landschaftsaufnahmen mit Straßenprotesten ab. Granaten explodieren, ein Panzer feuert Schüsse ab, synchron zum Paukenschlag in der Musik. Bei den euphorischen Schlusstakten kommen Schlauchboote an Land, Flüchtlinge werden willkommen geheißen.
Dass diese keine "normale" Fidelio-Aufführung wird, ist von Anfang an klar: Die Regie enthält keine versteckte oder verklausulierte Botschaft, sondern eine überdeutliche. Zwischen Arien lesen Aktivisten und Zeitzeugen Texte zur aktuellen Lage politischer Häftlinge in der Türkei vor, durchweg begleitet von Projektionen auf eine Großleinwand: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan als Sultan, türkische Panzer deutscher Herstellung beim Überfall in Nordsyrien, immer wieder Straßenproteste.
Worum es in "Fidelio" geht
Aber erst einmal zum Beethoven-Original. Oft wird behauptet, dass Ludwig van Beethovens Musik politisch sei, was bei seinen Sinfonien oder seiner Kammermusik schwer nachweisbar ist. Anders bei seiner einzigen Oper: "Fidelio" ist ein einziges Plädoyer für Meinungsfreiheit und gegen Staatswillkür und Unterdrückung.
Zentrale Figur in der Handlung ist eine Frau, Leonore, die sich als Mann verkleidet, um das Vertrauen eines Gefängniswärters zu erlangen. Sie will zu ihrem Ehemann, dem politischen Häftling Florestan. Sein "Verbrechen"? Seine regimekritische Meinung offen ausgesprochen zu haben. Weil es mit dem geplanten Hungertod des Häftlings nicht schnell genug voran geht, will der Gouverneur persönlich ihn mit einem Dolch erledigen. Leonore alias Fidelio vereitelt mutig die Bluttat, und das im richtigen Augenblick: Der Minister erscheint, der Gouverneur wird abgesetzt, die Häftlinge freigelassen. Zum Schluss wird Mut und Treue der Hauptfigur besungen.
Schwerer Bühnenstoff
Mit der Geschichte und mit dem Operngenre überhaupt hatte Beethoven seine Mühe: 1805 in Wien uraufgeführt, hat er die Oper mehrfach überarbeitet - von der Ouvertüre allein gibt es drei Versionen - und dann in der endgültigen Version erst 1814 präsentiert.
Für Regisseure bleiben Form und Gestaltung des Werks eine Herausforderung: ernster Stoff, jedoch mit Happy End - und dann auch noch die gesprochenen Zwischentexte, die die Handlung voranbringen, den musikalischen Fluss jedoch unterbrechen.
Radikale Lösung
Der Regisseur Volker Lösch, der seine Deutung des Werks am 1. Januar in der Bonner Oper als erste "Fidelio"-Inszenierung des Beethoven-Jubiläumsjahres präsentieren durfte, wählte eine radikale Lösung: Er strich die gesprochenen Partitur-Texte und holte das Stück in die Gegenwart durch neue Texte, die von Zeitzeugen, darunter auch direkt Betroffenen, gesprochen werden. Das Thema: politische Verfolgung in der Türkei. Die Texte "ergänzen und erweitern die Themen der Handlung", sagte Lösch der DW: "Verdrängung, Hoffnung, Befreiungskampf, Gefangenschaft, Folter und Freiheit."
Dabei erfährt man viel, etwa von Hakan Akay, der vor 27 Jahren verhaftet wurde, freigekommen ist und sich nun für seinen noch inhaftierten krebskranken Bruder einsetzt. Oder vom seit 2018 in Haft sitzenden türkischen Journalisten und Schriftsteller Ahmet Altan, der für sein Buch "Ich werde die Welt nie wiedersehen" den Geschwister-Scholl-Preis erhielt. Oder von der Aktivistin Dîlan Yazıcıoğlu, die von einem Besuch in der Türkei erzählt.
Vierzig Prozent Wort, sechzig Prozent Musik
Geschätzte vierzig Prozent des Abends in der Bonner Oper wird den gesprochenen Texten gewidmet, meist am Tisch zur Bühnenseite vorgelesen, ehe später die Zeitzeugen in die Handlung eingebunden sind. Ob der Regisseur Volker Lösch übers Ziel hinausgeschossen habe, fragten einige Besucher vorsichtig. Zentrales Thema ist der Kurdenkonflikt, und in einer Sequenz ging es sogar um die Staatsräson der Türkei, was türkische Nationalisten und Erdoğan-Unterstützer auf den Plan rufen dürfte. Werden künftige Aufführungen nur unter Polizeischutz stattfinden können? Man hofft nicht.
Es bleiben die restlichen sechzig Prozent: Beethovens Musik - und ein hervorragendes Sängerensemble. Allen voran Thomas Mohr in der Rolle des Florestan. Die Rolle der Leonore wurde hervorragend durch die hochdramatische Sopranistin Martina Welschenbach besetzt. Dirk Kaftan leitete das Beethoven Orchester Bonn straff und mit packender Energie, oft kantig, jedoch auch mit Momenten der bewegten Ruhe und Sinnlichkeit wie im Quartett der Figuren Marzelline, Fidelio, Rocco und Jaquino.
Beethoven in die heutige Zeit
Das alles findet in einer aufwendigen Inszenierung statt, die, wie der Bonner Theaterintendant Bernhard Helmich bei der anschließenden Feier erklärte, ohne Unterstützung durch die BTHVN-Jubiläumsgesellschaft nicht hätte realisiert werden können. Dabei wurde oft vom Grünfilter Gebrauch gemacht, wie im Fernsehen üblich: Auf den Projektionen verschwinden grüne Gegenstände bei entsprechendem Hintergrund - auch Menschen, sinnbildlich für politische Häftlinge, die für die Allgemeinheit unsichtbar sind.
"Es ist Theater für alle", erklärte Volker Lösch, "ohne Vorbildung und Informationen lesbar." Also nichts vorausgesetzt, nur Geduld: Bei der Konfrontation mit der türkischen Politik gibt es kein Entrinnen, und als die Oper von gefühlt immer längeren Texten unterbrochen wurde, musste mancher Zuschauer tief Luft holen.
Ob sich Beethovens optimistischer, gar utopischer Grundgedanke in die heutige Zeit übertragen lässt? "Natürlich!" antwortet Lösch. "Wer sich für andere einsetzt, wie Leonore, die ihr Engagement vom Einzelnen auf die Gesellschaft ausweitet, stärkt die Kräfte einer freien, demokratischen Kultur."
Plakate und Postkarten
Die Botschaft ist alles andere als unterschwellig. "Das heißt für uns: sich einmischen, positionieren, für unsere Werte einstehen, und wenn nötig darum kämpfen. Wir müssen uns alle mehr politisch engagieren, sonst überlassen wir die Welt den Gegnern der Freiheit."
Während des Schlusschors hält das Ensemble Plakate hoch und plädiert für die Freilassung von Häftlingen. Namen werden genannt, und fertig adressierte Postkarten liegen im Foyer aus, adressiert unter anderem auch an Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der Aufforderung, den Waffenexport an die Türkei einzustellen. Applaus bricht aus im Publikum - noch während der Musik.
Bei aller Aktualität und Relevanz fehlte nur eins: die Möglichkeit, ein Für und Wider in der Botschaft zu finden. Diese Inszenierung lässt keine Diskussion zu, sondern polarisiert. Pro oder contra - und man kann sich nur schwer vorstellen, dass durch diesen Opernabend etwa der türkisch-kurdische Konflikt durch das Verstehen gegensätzlicher Positionen entschärft werden könnte.
Gemischte Gefühle im Publikum
Das alles kam unterschiedlich an. Bei gefilmten Folterszenen standen Besucher auf und gingen. Stehende Ovation gab es allerdings am Ende auch, wobei Buhs und Bravos sich in die Waage hielten.
Und Beethoven selbst? Er hält das aus. Der Komponist wäre vielleicht froh, dass seine Botschaft über 200 Jahre später verstanden wird - und ebenso betrübt darüber, dass die Situation frei denkender Menschen mancherorts noch so trüb ist wie zu seiner Zeit.