1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Boeing 737MAX: Der Neustart bleibt im Ungewissen

Andreas Spaeth
10. März 2020

Nach zwei Abstürzen in Folge steht Boeings 737MAX seit einem Jahr am Boden. Die Folgen für das Unternehmen und die Airlines sind dramatisch. Und jetzt kommt das Coronavirus noch dazu.

https://p.dw.com/p/3Z5K3
Geparkte 737MAX auf dem Boeing Field in Seattle (US-Bundesstaat Washington)
Bild: Reuters/G. He

Normalerweise legt sich die öffentliche Aufregung einige Zeit nach einem Flugzeugabsturz und die Juristen übernehmen. Nicht so im Fall der Boeing 737MAX, sie beherrscht nach zwei Unfällen gerade wieder die Schlagzeilen in den USA mit immer neuen Hiobsbotschaften für Boeing.

Die Entwicklung der Boeing 737MAX war "geprägt von technischen Designfehlern, einem Mangel an Transparenz und dem Bemühen, Informationen über die Funktionen des Flugzeugs zurückzuhalten." Zu diesem vernichtenden Ergebnis kommt ein vorläufiger Bericht des Verkehrsausschusses des US-Repräsentantenhauses, der Ende vergangener Woche veröffentlicht wurde. "Boeing und die US-Luftfahrtbehörde FAA haben mit der Sicherheit der Öffentlichkeit gespielt", heißt es in dem Bericht.

Gedenken an die Opfer am Jahrestag des Absturzes in Äthiopien
Gedenken an die Opfer am Jahrestag des Absturzes in ÄthiopienBild: DW/S. Muchie

Neuer Chef wird zum Problem

Gleichzeitig gab der neue Boeing-Vorstandschef David Calhoun der New York Times ein seltenes Interview. "Die Probleme sind ehrlich gesagt größer, als ich dachte", räumte er darin ein, "und das spricht für die Schwäche unserer Führung", so Calhoun. Damit brachte er die Mitarbeiter erst recht in Rage. Denn Calhoun selbst war es gewesen, der noch bis zuletzt seinem zum Jahresende entlassenen Vorgänger Dennis Muilenburg öffentlich attestiert hatte, er mache "alles richtig". Calhoun selbst trägt außerdem an den Verhältnissen eine Mitschuld, da er seit 2009 im Boeing-Aufsichtsrat saß und zuletzt sogar dessen Chef war.

Viele Beobachter zweifeln daher daran, ob er der richtige Mann für den nötigen Neuanfang ist. Und diese Zweifel dürften sich in den letzten Tagen massiv verstärkt haben, weil Calhoun nach dem Interview zurückruderte und sein Bedauern über die gemachten Aussagen einräumte. Damit nicht genug: Boeing sieht sich massiven Strafzahlungen gegenüber, mindestens 25 Millionen Dollar für den Einbau nicht zugelassener Teile in die 737MAX, was allerdings nur ein Buchteil der erwarteten wirtschaftlichen Verluste nach dem Desaster ausmacht.

Unterdessen meldet das Wall Street Journal, die Behörden stünden kurz davor, technische Änderungen bei der Verlegung elektrischer Kabel in allen fast 800 bisher produzierten 737MAX zu verlangen - was weitere Verzögerungen mit sich bringen könnte. Bisher war die Hoffnung, die seit einem Jahr auf den Boden verbannte Flotte ab dem Sommer wieder in die Luft zu bringen. In jedem Fall ist die weitergehende 737MAX-Saga mit ihren weitreichenden Folgen einmalig in der Luftfahrtgeschichte.

Boeings neuer Chef David Calhoun (links) und sein glückloser Vorgänger Dennis Muilenburg
Boeings neuer Chef David Calhoun (links) und sein glückloser Vorgänger Dennis MuilenburgBild: AFP/T.Yamanaka/O. Douliery

Immer neue Fehler

Vor einem Jahr erlitt die MAX in Äthiopien ihren zweiten Unfall, zuvor hatte es im Oktober 2018 bereits einen Crash desselben Typs in Indonesien gegeben. Insgesamt starben 346 Menschen. Kurz darauf wurden weltweit alle 387 damals bereits ausgelieferten 737MAX auf den Boden verbannt, anschließend die gesamte noch bis Dezember weiterlaufende Produktion. Heute stehen mehr als doppelt so viele Flugzeuge des bisherigen Bestsellers am Boden, ein nie dagewesener Vorgang.

Ihre Zukunft ist heute ungewisser denn je. Immer neue Fehler werden gefunden, immer uneiniger sind sich die Zulassungsbehörden in aller Welt - immer mehr Airlines verlieren das Interesse an der 737MAX. Denn die Flugbranche schlittert durch das Coronavirus und die dadurch fehlende Passagiernachfrage gerade in eine ihrer schlimmsten Krisen überhaupt - da ist jedes nicht ausgelieferte Flugzeug für die schwer getroffenen Airlines ein Problem weniger. Tatsache ist: Die Krise um die Boeing 737MAX ist nicht nur für den Hersteller die größte Bewährungsprobe in der über hundertjährigen Geschichte, sondern sie stellt das über Jahrzehnte praktizierte und vermeintlich funktionierende weltweite System der behördlichen Überwachung und Zulassung neuer Flugzeuge grundlegend in Frage. Wie die gesamte Branche da wieder herausfinden will, muss sich erst noch zeigen.

Hoffnungsträger 777X - wirklich?

Eine besonders schockierende Erkenntnis aus den 737MAX-Unfällen ist die Aufdeckung einer völlig verkommenen Sicherheitskultur bei Boeing, die lange als vorbildlich gegolten hatte. Von diesem fast legendären Ruf zehrte sie immer noch, als bereits Profite und Shareholder Value beinahe um jeden Preis im Vordergrund standen. Es spricht Bände, dass Boeing bis ziemlich genau vor einem Jahr absolute Rekordumsätze feierte - und jetzt die stärksten Verluste der langen Firmengeschichte einfliegt. Gleichzeitig muss die vorher global allmächtige US-Luftfahrtbehörde einen massiven Reputationsverlust hinnehmen für ihre Kungelei mit Boeing.

Stillstand in der Produktion: Eine 737MAX 8 im Boeing-Werk Renton (USA)
Stillstand in der Produktion: Eine 737MAX 8 im Boeing-Werk Renton (USA)Bild: picture-alliance/dpa/AP/T. S. Warren

Bisher hatten alle anderen wichtigen Zulassungsbehörden der Welt von der europäischen EASA bis hin zu Chinesen oder Kanadiern Zertifizierungen und Anordnungen der FAA automatisch übernommen. Dies könnte sich jetzt ändern, wie etwa die EASA und der kanadische Verkehrsminister bereits angekündigt haben. Die große Befürchtung etwa der Linienluftfahrtlobby IATA ist, dass dies die Prozesse nochmals verlängert, bis neue Flugzeuge eingesetzt werden können. Ein erster Lackmus-Test wird die Zulassung von Boeings bereits um über ein Jahr verspätetem Langstreckenjet 777X sein. Hier gehört die Lufthansa zu den Erstkunden, die erste Auslieferung wird nun nicht vor Ende 2021 erwartet.

Gewaltig sind die wirtschaftlichen Auswirkungen der 737MAX-Krise auf Boeing und die gesamte US-Wirtschaft. Finanzminister Steve Mnuchin hatte im Januar erklärt, die Boeing-Krise könne das Land ein halbes Prozent seines Wirtschaftswachstums für 2020 kosten - das war vor der Corona-Krise. Zu Jahresbeginn wurden die bis dahin für Boeing bereits aufgelaufenen Kosten auf zehn Milliarden US-Dollar beziffert. Wenn die 737MAX ab Juni oder Juli wieder fliegen könnte, schätzen Analysten derzeit den Schaden für Boeing auf 20 Milliarden US-Dollar, darin sind Zahlungen an die Familien der Opfer noch nicht enthalten. Jeder Monat, in dem die 737MAX-Produktion weiter stillsteht - und davon muss man im Moment ausgehen - kostet Boeing demnach eine weitere Milliarde US-Dollar.