Blutiges Ende in Russland
4. September 2004In einem blutigen Chaos ist am Freitag (3.9.2004) nach zwei Tagen das Geiseldrama in der russischen Kaukasusrepublik Nordossetien mit vermutlich mehr als 150 Toten gemündet. Während der ursprünglich nicht geplanten Erstürmung der Schule in Beslan, wo Geiselnehmer seit Mittwoch (1.9.) hunderte Kinder, Eltern und Lehrer festgehalten hatten, wurden am Freitag nach russischen Medienberichten über 600 Menschen verletzt. Zuvor hatten die pro-tschetschenischen Terroristen das Feuer auf flüchtende Geiseln eröffnet, unter ihnen viele Kinder. Ausgelöst wurde das allgemeine Chaos offenbar durch die versehentliche Explosion eines Sprengsatzes.
Was ist geschehen:
Zuvor hatten die Geiselnehmer der Bergung der Leichen zugestimmt, die seit Beginn des Geiseldramas auf dem Schulgelände lagen. Bei der Evakuierung der Leichen ereigneten sich Explosionen. Eine Ex-Geisel sagte dem russischen TV-Sender Rossia, einer der Sprengsätze, die mit Klebeband an den Wänden der Turnhalle befestigt gewesen seien, habe sich gelöst und sei explodiert. Daraufhin stürzte das Dach der Turnhalle ein, in der die meisten Geiseln zusammengepfercht waren.
Mehreren Dutzend Geiseln gelang daraufhin die Flucht. Die Geiselnehmer schossen auf die Flüchtenden und verletzten mehrere von ihnen. Die mehr als 100 Todesopfer in der Schul-Turnhalle seien zum Teil durch den Einsturz des Hallendachs getötet worden, berichtete die russische Nachrichtenagentur Interfax.
Stürmung soll nicht geplant gewesen sein
Als sich die Ereignisse überschlugen, entschieden sich die russischen Sicherheitskräfte nach offiziellen Angaben spontan zum Sturm auf die Schule. Der Kreml-Berater für die Kaukasusregion, Aslambek Aslachanow, erklärte, die Erstürmung sei nicht geplant gewesen. Noch am Freitagmorgen hatte angesichts zäher Verhandlungen zunächst nichts auf ein rasches Ende der Geiselnahme hingedeutet. Zum Zeitpunkt der Eskalation hätten die Behörden noch immer auf eine friedliche Lösung gesetzt, sagte der regionale Chef des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, Waleri Andrejew.
Verzweifeltes Rennen um ihr Leben
Um das Leben der flüchtenden Kinder und Erwachsenen zu schützen, hätten die Spezialkräfte die Geiselnehmer beschossen, sagte Andrejew. Auch wütende Einwohner von Beslan hätten das Feuer auf die Geiselnehmer eröffnet. Fernsehbilder zeigten, wie dutzende halb nackte Kinder verzweifelt um ihr Leben rannten. Einige von ihnen waren blutüberströmt, andere griffen gierig nach Wasserflaschen. Präsident Wladimir Putin hatte am Donnerstag eine gewaltsame Beendigung des Geiseldramas vorerst ausgeschlossen. Die Geiselnehmer forderten zuletzt die Unabhängigkeit Tschetscheniens von Russland.
Kreml-Berater Aslachanow sagte im russischen Fernsehen, er schätze die Zahl der Toten auf "beträchtlich mehr als 150". Der Nachrichtenagentur ITAR-TASS zufolge wurden etwa 650 Menschen ins Krankenhaus eingeliefert, unter ihnen mehr als 220 Kinder. Bei den Feuergefechten wurden nach Angaben des Geheimdienstes FSB mindestens 20 Geiselnehmer getötet. Bis in den späten Freitagabend lieferten sich Geiselnehmer noch Feuergefechte mit Sicherheitskräften.
Entsetzen und Mitgefühl
Mit einer Welle des Mitgefühls und einer einhelligen Verurteilung des Terrorismus hat die internationale Gemeinschaft auf das Geiseldrama in Nordossetien reagiert. Die Europäischen Union bedauerte, dass das Geiseldrama nicht friedlich beendet wurde. Polens Verteidigungsminister Jerzy Szmajdzinski sagte, es hätte länger verhandelt werden müssen.
Bundeskanzler Gerhard Schröder war entsetzt über den blutigen Verlauf des Geiseldramas: "Der Anschlag ist eine neue Dimension des Terrorismus", betonte der Kanzler.
Der niederländische Außenministerrats-Vorsitzende Bernard Bot zeigte trotz des blutigen Verlaufs des Geiseldramas Verständnis für die Lage der russischen Regierung. Moskau sei mit einem "schwierigen Dilemma" konfrontiert gewesen, sagte er. NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer bekundete die Solidarität des Verteidigungsbündnisses mit Russland im Kampf gegen die terroristische Bedrohung.
Das UN-Kinderhilfswerk Unicef in Köln zeigte sich "besorgt, dass Kinder und Jugendliche immer öfter ins Fadenkreuz von Terror und Gewalt geraten". Die Geiselnahme von Beslan markiere eine neue Dimension des Terrors. Schulen müssten als sichere Orte für Kinder zum Lernen und Spielen respektiert werden und dürften niemals Ziel von Gewalt werden. (kap)