"Ich sah die rauchende Synagoge"
9. November 2013Sein Leben ist in vielerlei Hinsicht ein Spiegel der Höhen und Tiefen des 20. Jahrhunderts. W. Michael Blumenthal wurde als Deutscher geboren und ist heute seit mehr als 60 Jahren Amerikaner. Während des Zweiten Weltkriegs saß er als Staatenloser in Shanghai, in den 70er Jahren wurde er Finanzminister eines der mächtigsten Staaten der Welt: den USA. Heute ist er Direktor des Jüdischen Museums Berlin, jener Stadt, in der er 1938 als Zwölfjähriger die "Reichspogromnacht" erlebte und in deren Folge sein Vater verhaftet und ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt wurde. Wenige Wochen später emigrierte die Familie nach Shanghai. Im Interview berichtet Blumenthal über seine persönlichen Erinnerungen, die Rolle des Auslands bei den Pogromen und wie wir heute an diesen Tag erinnern sollten.
Mister Blumenthal, Sie waren 1938 zwölf Jahre alt und lebten mit ihrer Familie in Berlin-Charlottenburg, mitten am Kurfürstendamm. Wie haben Sie damals die grausame Nacht vom 9. auf den 10. November erlebt?
Ich kann mich noch sehr gut an den Morgen des 10. Novembers erinnern. Dies ist eine der klarsten Erinnerungen meiner Jugend. Mein Vater wurde am frühen Morgen verhaftet. Inmitten der allgemeinen Aufregung und trotz des Verbots meiner Mutter konnte ich unbemerkt auf die Straße laufen. Ich sah die eingeschlagenen Schaufenster am Kurfürstendamm und die noch rauchende, aber nicht mehr brennende Synagoge in der Fasanenstraße. Das sind schreckliche Erinnerungen, besonders die Verhaftung meines Vaters, die ich bis heute nicht vergessen habe.
Was bedeutete die Verhaftung Ihres Vaters für die Familie?
Ich erinnere mich noch an die Worte meiner Mutter, als er von zwei Polizisten abgeführt wurde. "Was ist los? Was macht ihr mit ihm? Was hat er getan? Wohin wird er gebracht?" Selbst als zwölfjähriges Kind fühlt man die Angst der Erwachsenen, in diesem Fall die meiner Mutter. Ich kann mich noch an den Blick meines Vaters erinnern, wie er über den Hof unseres Hauses geführt wurde. Es war der letzte Blick zurück zu uns. Wir standen, glaube ich, auf dem Balkon oder am Fenster und konnten ihn sehen. Dass die Eltern, von denen man als Kind erwartet, dass sie immer alles richtig machen, die Kontrolle verloren hatten, das war ein beängstigendes Gefühl für ein Kind.
Ihr Vater, so stellte sich heraus, war wie tausende andere jüdische Männer in ein Konzentrationslager verschleppt worden, nach Buchenwald. Einige Wochen später kam er frei und ihre Familie konnte nach Shanghai fliehen. Hatten ihre Eltern schon zuvor darüber nachgedacht, Deutschland zu verlassen oder wurde ihnen die massive Bedrohung erst nach den Novemberpogromen bewusst?
Deutschland war ihre Heimat, dort hatten ihre Vorfahren seit Jahrhunderten gelebt – wo sollten sie hin? Dennoch hatten sie von Anfang an ans Auswandern gedacht. Aber sie hatten weder das Geld noch die Kontakte, die man damals brauchte. Nach dem November war klar: Entweder du verlässt Deutschland oder du kommst nie wieder aus dem Konzentrationslager heraus und wirst wahrscheinlich sterben. Und so hat meine Mutter dann, wie viele andere Frauen auch, die Konsulate bestürmt, aber nirgendwo war ein Visum zu bekommen. Im letzten Moment haben wir dann noch die Schiffspassagen nach Shanghai bekommen. Denn in China konnte man einfach an Land gehen, dort brauchte man kein Visum, nicht mal einen Pass.
"Es geschah vor aller Augen" ist ein bekannter Satz über die Novemberpogrome. Hätte die deutsche Bevölkerung damals bereits erkennen müssen, in welche Richtung sich Nazi-Deutschland entwickelte?
Natürlich. Über die Rolle der deutschen Bevölkerung ist ja viel nachgedacht worden. Aus unterschiedlichen Gründen haben die Deutschen entweder mitgemacht oder weggeguckt. Das bedeutet nicht, dass allen gefallen hat, was geschah. Besonders die Verwüstungen und brennenden Synagogen haben vielen gar nicht gefallen und nicht alle haben auf der Straße gestanden und gejubelt. Viele haben still und betreten hingeguckt.
Wie haben sich Freunde und Nachbarn ihrer Familie verhalten?
Nichtjüdische deutsche Freunde meiner Eltern haben ihnen ins Ohr geflüstert: Ihr seid damit ja nicht gemeint und es tut uns ja so leid. Sie haben Mitleid gezeigt, uns Mut zugesprochen und ab und zu hinter versteckter Hand mal ein bisschen versucht zu helfen. Aber der größte Teil hat einfach weggeguckt oder gesagt: Es ist ja nicht schön, aber verdient haben sie's doch. Das war eine schreckliche Zeit für meine Eltern, denn sie waren ein Teil der Bevölkerung gewesen und auf einmal sagte man zu ihnen: Du gehörst nicht mehr zu uns.
Sie wurden in den 60er Jahren Berater Kennedys und später Finanzminister der USA, der einzigen Nation, die aus Protest über die Pogrome 1938 ihren Botschafter aus Deutschland abzog. Wie beurteilen Sie heute die Rolle der USA?
Ich glaube in den USA hat man nicht daran gedacht, dass Hitler die Leute wirklich ermorden würde. Aber wie schrecklich das Nazi-Regime war, das wusste man ziemlich klar und deutlich. Es gab ja viele amerikanische Juden, die das publiziert haben. Nur zu dieser Zeit war auch in Amerika ein gewisser Antisemitismus verbreitet, besonders im Kongress und im Auswärtigen Amt. Man hat leider nicht genug getan, um den Flüchtlingen eine neue Heimat zu bieten. Die USA haben wenigstens einen Teil der Menschen aufgenommen, aber längst nicht so viele wie sie hätten aufnehmen können. Das ist ein schwarzer Fleck in der amerikanischen Geschichte. Das wird auch heute so gesehen. Man hätte viel mehr tun können. Nur den Botschafter abzuberufen, reichte nicht. Es hätte alle möglichen anderen Wege gegeben, den Druck zu verstärken und das hat kein Land getan.
In Deutschland kritisieren heute einige junge Menschen, aber inzwischen auch einige Intellektuelle, sie würden mit der Erinnerung an den Holocaust förmlich erschlagen. Haben wir ein zu ritualisiertes Verhältnis zu Gedenktagen an die Verbrechen der NS-Herrschaft?
Ich glaube, dass besonders in Deutschland die Erinnerung an das, was im Namen dieses Landes, im Namen aller Deutschen damals geschah, immer wach gehalten werden muss. Das ist nicht eine Frage der Schuld, sondern eine Frage der Verantwortung. Das bedeutet nicht, dass man sich in Sack und Asche kleiden muss, aber man darf es nicht vergessen. Die Frage ist, wann und wie man sich mit jungen Menschen darüber unterhält, die ja dazu gar keine richtige Verbindung mehr haben. Auch zu meiner Zeit war der Erste Weltkrieg für mich – der nur acht Jahre vor meiner Geburt beendet war – etwas, das in einer fernen Zeit lag. Also, ich kann das verstehen. Es kommt darauf an, wie man mit jungen Menschen darüber spricht und Bezüge zum Umgang mit Minderheiten heute klar macht. Wenn man es richtig macht, dann verstehen junge Menschen auch, warum man dies nicht vergessen darf.
Wie blicken Sie heute auf Deutschland – nach Jahrzehnten, die sie in den USA gelebt haben?
Die heutige Bundesrepublik ist ein demokratisches Land, in dem die Menschen einander helfen. Ich finde es wichtig, dass Deutsche gewillt sind, die Vergangenheit nicht zu vergessen, sondern aus ihr zu lernen. Nur so können wir eine bessere Zukunft schaffen.