Liam Gallagher: Blick zurück im Zorn
5. Juni 2017Es war ohne Frage ein toller Abend. Musik als Balsam für die geschundenen Seelen der Menschen von Manchester, das funktionierte. Initiatorin war Ariana Grande, bei deren Konzert zwei Wochen zuvor 22 Menschen starben und mehr als 60 verletzt wurden. Das Management der Popsängerin hatte angesichts der Kürze der Zeit ein beeindruckendes Line-up auf die Beine gestellt: Robbie Williams und Take That, Justin Bieber und die Black Eyed Peas, Katy Perry und Coldplay. Sie alle und viele mehr sorgten mit ihrer Songauswahl für Emotionen und viele Tränen flossen - sowohl bei den Fans als auch bei Gastgeberin Grande.
Robbie Williams textete "Strong", seinen Seelenstriptease über die eigene Schwäche, kurzerhand in "Manchester, we’re strong" um. Im Abendrot sang Katy Perry "I am the champion, and you‘re gonna hear me roar" (Ich bin der Sieger, und ihr werdet mich brüllen hören.) Wie gemacht für die gebeutelten Menschen in Manchester. Danach kamen Coldplay auf die Bühne, und als sie gemeinsam mit Ariana Grande den Oasis-Klassiker "Don’t Look Back in Anger" anstimmten, war klar, dass dieser Abend, der ein ganz großer hätte werden können, unvollendet zu Ende gehen würde.
Einzigartige Chance auf Versöhnung
"Don’t Look Back in Anger", das war das Lied, das die Trauernden am Tag nach dem Anschlag spontan auf dem Albert Square anstimmten und damit zur Hymne machten. Einer der größten Hits der größten Band, die Manchester hervorgebracht hat: Oasis. Die ewig im Zwist liegenden Gallagher-Brüder Liam und Noel waren in den Neunzigern neben Blur die Superstars des Britpop. Endgültig verkracht hatten sie sich 2009, seitdem gehen sie getrennte Wege. Die Brüder gemeinsam wieder auf der Bühne, nach diesem schrecklichen Ereignis, das wäre ein starkes Zeichen dafür gewesen, dass die Liebe selbst den tiefsten Bruderhass überwinden kann. Doch es sollte nicht sein. Wenige Tage vor dem Konzert hatte Liam bedauernd mitgeteilt, dass er am Tag des Konzerts schon anderweitig gebucht sei und es deshalb nicht schaffe. Gleichzeitig machte er klar, dass er nach wie vor nicht mit seinem Bruder spreche.
Statt dem Bruder gibt es Coldplay
Tatsächlich war er am Sonntag erst bei Rock im Park in Nürnberg aufgetreten, doch als Coldplay sich verabschiedet hatten, wurden hinter der Bühne ein paar Gitarrenakkorde angetestet, die verdächtig nach Oasis klangen. Und dann kam Liam auf die Bühne - jedoch allein. Kein Noel weit und breit. Liam stand da in seinem orangefarbenen Mäntelchen, sang den Oasis Song "Rock 'n' Roll Star" und seine aktuelle Solo-Single, die nicht zu seinen größten Hits zählen wird. Und dann kam ihm noch Coldplay-Frontmann Chris Martin zu Hilfe. Gemeinsam sangen sie den Oasis-Klassiker "Live Forever".
Liam machte eine bedauernswerte Figur. Da stand er vor den Leuten aus seiner Stadt und durfte oder wollte offenbar den vom Bruder geschriebenen Song "Don’t Look Back in Anger" nicht singen, musste stattdessen ein Duett mit dem Mann anstimmen, den er in der Vergangenheit als Erdkundelehrer und Vikar geschmäht hatte. Das erinnerte an die zahlreichen Elfmeter, die die englischen Fußballer bei diversen Welt- und Europameisterschaften nicht versenken konnten.
Pink Floyd mit gutem Beispiel voran
Es geht auch anders: Die ewigen Streithähne Roger Waters und David Gilmore von Pink Floyd haben sich 2005 für das Konzert "Live 8" zusammenraufen können. Eine versöhnliche Geste für den guten Zweck. Es war ein Konzert für die Ewigkeit. Ähnliches hätten Liam und Noel am Sonntag vollbringen können. Doch Noel wollte offenbar nicht. Er ließ seinen Sprecher lapidar mitteilen, ein lange geplanter Familienurlaub habe ihn unabkömmlich gemacht. Liam schäumte. Auf Twitter ließ er anschließend seiner Enttäuschung und seiner Wut freien Lauf.
"Noel ist außerhalb des verdammten Landes. Waren wir das nicht alle? Mein Lieber, steig in ein verdammtes Flugzeug und spiel deine Lieder für die Kinder du trauriger Arsch"
"Manchester, ich möchte mich entschuldigen für die Abwesenheit meines Bruders gestern Abend, bin sehr enttäuscht."
Was in den Neunzigern wie ein PR-Gag wirkte, erscheint jetzt nur noch traurig. Aber schaue nicht im Zorn zurück, Liam. Es war trotzdem ein toller Abend. Nur eben kein ganz großer.