Eine Zukunft ohne legale Abtreibungen
23. Juni 2019Die Szenerie könnte nicht unauffälliger sein: ein ruhiger Besprechungsraum in einer Bibliothek in Washington, D.C. Es ist ein Abend mitten in der Woche. Überall sitzen Jugendliche in Lerngruppen zusammen. Das, was die Gruppe, in der ich sitze, von den anderen unterscheidet, ist das Verhältnis von Frauen zu Männern - 25 zu eins. Und die Flugblätter, die sie in den Händen halten: Informationen darüber, wie eine Abtreibung ohne ärztliche Betreuung mit einer Pille namens Misoprostol durchgeführt werden kann. Das Medikament wird vor allem zur Behandlung von Magen- und Darmgeschwüren eingesetzt. In vielen Ländern, in denen Abtreibungen illegal sind, schlucken Frauen die Pille allerdings auch, um eine ungewollte Schwangerschaft selbst zu beenden.
Einer solchen Zukunft sehen viele Frauen in den USA entgegen. Die Sorge ist berechtigt, seitdem einige US-Bundesstaaten im Süden und mittleren Westen extrem restriktive Abtreibungsgesetze verabschiedet haben und der konservative Oberste Gerichtshof die wegweisende "Roe vs. Wade"-Grundsatzentscheidung zu kippen droht, mit der 1973 das Recht auf Abtreibung gesetzlich verankert worden war. Der Austausch über alternative Methoden auf Informationsveranstaltungen wie dieser scheint eine neue Frontlinie im Kampf um die körperliche Autonomie der Frau zu markieren.
"Informiert euch darüber, wie ihr eine Schwangerschaft sicher und selbstständig beenden könnt, denn "Roe" ist bereits 2016 gestorben", ermahnt Erin Matson das Publikum im unnachgiebigen Ton einer Aktivistin. Ich habe schnell den Eindruck, dass die Co-Direktorin der Gruppe "Reproaction", die sich für das Recht auf Abtreibungen einsetzt, ihre Überzeugung nicht zum ersten Mal verteidigt. "Realität ist, dass Frauen immer Wege finden werden, ihre Schwangerschaften zu beenden."
Früher hieß das, dass sich verzweifelte Frauen auf gefährliche Besuche in den Hinterzimmern illegaler Abtreiber einließen oder mit Kleiderbügeln aus Draht versuchten, ihrer ungewollten Schwangerschaft auf grausame Weise ein Ende zu setzen. In Alabama, einem der Bundesstaaten, in dem die Möglichkeiten zur Abtreibung immer geringer werden, erzählt mir eine Ärztin von einer jungen Frau, die so verzweifelt war, dass sie Bleichmittel schluckte, um ihre Schwangerschaft zu beenden.
Es sind Fälle wie dieser, die die Diskussionsteilnehmer, darunter Politikberater, Geschäftsführer von Abtreibungsfonds und Jugendsozialarbeiter, mobilisieren, sich über sicherere Optionen für eine bis zur zwölften Schwangerschaftswoche selbst durchgeführte Abtreibung auszutauschen. Leitfaden bilden die Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Online-Widerstand
Auch im Netz hat sich der Widerstand gegen die Kriminalisierung von Abtreibungen formiert. Auf der Online-Plattform "Reddit" stoße ich das erste Mal auf Hinweise für das wiederbelebte sogenannte "Auntie Network", einer Untergrundbewegung aus der Zeit vor "Roe vs. Wade". Dort helfen sich Frauen gegenseitig dabei, Abtreibungen über Staatsgrenzen hinweg durchzuführen.
"Ich, deine Cousine/beste Freundin Andreya hätte dich gerne zu Besuch hier im guten alten Nebraska/West-Iowa. Du bist herzlich eingeladen, so lange zu bleiben, wie du möchtest. Ich werde dich überall dort hinfahren, wo du hin möchtest/musst", lese ich in einem Beitrag. Übersetzt heißt das, dass die Reddit-Nutzerin ihr Zuhause als Unterkunft für Frauen zur Verfügung stellen möchte, die ihren Heimat-Bundesstaat für eine Abtreibung verlassen müssen. Auch eine "Geburtstagskarte" könne versendet werden, heißt es weiter. Eine Karte, der Pillen wie Misoprostol beigelegt sind.
Die Wiederbelebung des "Auntie Networks" im Internet ist allerdings nicht bei allen Pro-Abtreibungsaktivisten gern gesehen. Sie argumentieren damit, dass mit den bestehenden Abtreibungsfonds bereits ein gut organisierter und sicherer Rahmen für hilfebedürfte Frauen geschaffen wurde, während Frauen in Not in den Weiten des Internets nicht die Unterstützung bekommen, die sie tatsächlich brauchen.
"Das ist nichts, was eine Person allein regeln kann. Wir bewirken mehr, wenn wir zusammen arbeiten und uns vernetzen, um kollektive Stärke aufzubauen", sagt Lindsay Rodriguez vom "National Network of Abortion Funds", einer Art Dachverband für alle Fonds, die Frauen finanziell und logistisch bei der Durchführung einer Abtreibung unterstützen. "Wir fürchten, dass doppelte Anstrengungen für eine Sache, die ohnehin schon unterfinanziert ist, es den Menschen, die abtreiben wollen, noch schwerer macht."
Viele derer, die Abtreibungsfonds verwalten, weisen darauf hin, dass ein Kollektiv, wie das "Auntie Network" die Frauen zwar aufnimmt, aber nicht die Kosten für die Abtreibung selbst trägt. Deshalb sind die Fonds derzeit vor allem bemüht, darüber aufzuklären, dass Abtreibungen und deren Finanzierung noch immer möglich sind - der Verbotswelle, die das Land zu überrollen scheint, zum Trotz.
Als ich bei einem der Fonds anrufe, werde ich mit einer automatischen Telefonansage begrüßt. "Hallo, Sie haben den 'Yellowhammer'- Fond erreicht. Obwohl Gouverneurin Ivey den Gesetzentwurf HB314 unterzeichnet hat, sind Abtreibungen in Alabama nach wie vor möglich und legal. Wenn Sie finanzielle Unterstützung für eine Abtreibung brauchen, drücken Sie bitte die Eins."
Neue Risiken
Dennoch bleiben sowohl die Empörung über die Abtreibungsbeschränkungen als auch die individuellen Hilfsangebote. "Liebe Schwestern. Wir können nichts dagegen tun, wie ihr in eurem Heimatstaat behandelt werdet", schrieb Shelly O'Brien im vergangenen Monat auf Facebook.
Sie leitet ein kleines Hotel im Bundesstaat Michigan, in dem die sogenannte "Heartbeat"-Gesetzesvorlage bald ebenfalls für scharfe Einschränkungen bei Abtreibungen sorgen könnte. "Wenn du es aber bis nach Michigan schaffst, werden wir dich mit Unterkunft und Transport unterstützen", versprach O'Brien in ihrem Beitrag.
Sie habe online einen Schwall von Beschimpfungen über sich ergehen lassen müssen, sagt O'Brien, halte aber an ihrem Angebot fest. "Es ändert sich nur dann etwas, wenn Leute bereit sind, etwas zu riskieren."
Tatsächlich sieht es so aus, als gingen die "Aunties" und die Frauen, die eine selbstverwaltete Abtreibung in Betracht ziehen, ein Risiko ein: die Kriminalisierung.
"Ich möchte eines deutlich sagen", betont Erin Matson an die Gruppe gewandt, die sich in der Bibliothek in D.C. versammelt hat. "Es gibt keinen Bluttest, mit dem sich nachweisen lässt, dass Misoprostol geschluckt wurde. Die Symptome sind die gleichen wie bei einer Fehlgeburt. Du erhältst die gleiche Behandlung, solange du von einer Fehlgeburt sprichst. Sobald du allerdings die Abtreibung erwähnst, riskierst du eine strafrechtliche Verfolgung." Auch die verteilten Flugblätter mahnen zur Vorsicht: "Mindestens 20 Frauen wurden verhaftet, weil sie ihre Schwangerschaften beendet haben."
Im weiteren Verlauf der Diskussion wird außerdem deutlich: Auch das Internet könnte der Strafverfolgung neue Wege bereiten. "Wenn du eine Fehlgeburt hast, zuvor aber über Google nach Informationen zur selbstverwalteten Abtreibung gesucht hast, könntest du dafür bestraft werden", warnt Brooke Butler vom "D.C. Abortion Fund". "Das ist es, worauf wir zusteuern."