Bildungsnotstand in Erdogan-Land
1. Oktober 2016Der Putschversuch in der Türkei am 15. Juli hat gravierende Auswirkungen auf das türkische Bildungssystem. In den vergangenen zwei Monaten suspendierte die Regierung nach eigenen Angaben rund 50.000 Lehrer sowie 2349 Akademiker aus dem öffentlichen und dem privaten Sektor. Seit der Öffnung der Schulen Mitte September herrscht aus diesem Grund in Hunderten von Schulen Lehrermangel.
Dabei werden nicht nur die Lehrer suspendiert, die mit der Organisation FETÖ (angebliche Fethullahistische Terrororganisation) in Verbindung gebracht werden. Ebenso sind oppositionelle linksorientierte Lehrer betroffen, die der Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen angehören. Den Mitgliedern wird vorgeworfen, an den Friedensdemonstrationen am 21. und 29. Dezember 2015 teilgenommen zu haben. Der Regierung zufolge hatten diese Veranstaltungen das Ziel, "der PKK zu helfen".
Leere Schulhöfe in Van
Vor allem in den Gebieten im Osten der Türkei, wo vermehrt Kurden leben, ist die Anzahl der vom Dienst suspendierten Lehrer besonders hoch. Allein in Diyarbakır sind 4285 Personen betroffen. Äußerst problematisch war der Beginn des neuen Schuljahrs in der Provinz weit im Osten der Türkei. Seit dem Putschversuch wurden dort 765 Lehrer suspendiert.
In den vergangenen Jahren verzeichnete Van als Tourismus- und Wirtschaftszentrum aufgrund der Zuzüge ein großes Bevölkerungswachstum. Zurzeit herrscht Stille in der Stadt, die den Schock des Bombenattentats auf das AKP-Gebäude Mitte September noch nicht überwunden hat.
Nachdem in vier von der Partei des Friedens und Demokratie (BDP) regierten Stadtverwaltungen regierungsnahe Beamte eingesetzt wurden, verübte die PKK im Zentrum einen Bombenanschlag. Mindestens 48 Menschen wurden dabei verletzt. Die Einwohner sind seitdem verängstigt. Die Spuren des Angriffs auf das AKP-Gebäude sind immer noch zu sehen.
Neben der Furcht vor einem neuen Anschlag beschäftigt die Bevölkerung nun das Problem des Lehrermangels. Viele Familien schicken aus diesem Grund ihre Kinder nicht in die Schule, was sich an den leeren Schulhöfen im Zentrum zeigt. Durch den Unterrichtsausfall kommt es zu Lücken in der Schulausbildung.
"Wir leben in einer Region, in der die Schulausbildung ohnehin schwach ist. Jetzt fallen unsere Kinder gegenüber denen im Westen noch weiter zurück", beschweren sich die Eltern. Andere Eltern, deren Kinder in die vierte Klasse gehen, sagen, selbst wenn die Lehrer ersetzt würden, hätten sie Bedenken, ihr Kind in die Schule zu schicken. "Wie kann mein Kind in die Schule gehen, wenn im Zentrum Bomben explodieren?"
Suspendiert, und was nun?
Nicht weniger problematisch ist die Situation der Lehrer, deren plötzliche Suspendierung finanzielle Auswirkungen auf ihre Familien hat. Besonders hart trifft es Familien, in denen beide Partner Lehrer sind und beide suspendiert werden. Einer der betroffenen Lehrer, der seinen Namen nicht nennen möchte, sagte im Gespräch mit der DW: "Jetzt können wir nicht die Schulden für unsere Möbel bezahlen, die wir letztes Jahr gekauft haben. Unser Kind ging in den Kindergarten. Weil wir die Gebühren nicht bezahlen können, mussten wir es dort abmelden." Vielen Lehrer-Familien in Van geht es ähnlich.
Gülcan Korkmaz Sağyiğit ist die Vorsitzende der Gewerkschaft Eğitim-Sen in Van. Für sie steckt hinter der Suspendierung der Lehrer ihrer Gewerkschaft der Wille der Regierung, oppositionelle Gruppierungen zum Schweigen zu bringen. Auch sie wurde suspendiert. "Sie haben uns suspendiert, weil wir einen Tag an einer Demonstration teilgenommen haben. Man warf uns vor, die 'Bildung zu vernachlässigen'. Durch den Lehrermangel wird die Bildung unserer Schüler seit Wochen vernachlässigt. Sind wir etwa auch schuld daran?", fragt Sağyiğit.
Inzwischen bereitet die Regierung die Versetzung von 20.000 vertraglichen Lehrern am 10. Oktober vor, um dem selbstverschuldeten Lehrermangel entgegenzuwirken. Die Kritiker sehen darin den Versuch, die Stellen mit Beamten aus den Reihen der AKP zu besetzen.