Bildungserfolge machen Mut für Zukunft
11. März 2014"2001 gab es in Afghanistan 4000 Studierende, darunter keine Frau. Das hat sich auf über 80.000 an 26 staatlichen Hochschulen erhöht. Das ist im Laufe einer Dekade eine gewaltige Entwicklung", sagt Alexander Kupfer, der beim Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) zuständig ist für den Wiederaufbau des Hochschulsektors in Afghanistan. Zu den Erfolgen zählt auch ein Frauenanteil von über 20 Prozent bei Studierenden und Lehrkräften.
Kupfer warnt dennoch vor überzogenen Erwartungen. Was sich in Afghanistan derzeit vollziehe, sei ein historischer und gesellschaftlicher Umbruch, den man nur mit der Industriellen Revolution in Europa vergleichen könne. "Die Erwartung, dass Afghanistan binnen weniger Jahre auf einen Entwicklungsstand wie in Europa gelangen könnte, ist völlig abwegig. Das ist ein Generationenwerk."
Aufgaben und Wünsche für die kommenden zehn Jahre
Was realistischerweise in den kommenden zehn Jahren, der sogenannten Transformationsdekade, erreicht werden kann, sei, "dass auf einem Qualifikationsniveau, das wir noch weiter fördern wollen, eine funktionierende Bachelor- und Masterausbildung besteht. Für ersteres braucht man eine ausreichende Anzahl von Dozenten mit Master-Abschluss, für letzteres solche mit Promotion. Das ist in zehn Jahren weitgehend zu schaffen", sagt DAAD-Mann Kupfer.
3000 Afghanen wurden bisher mit unterschiedlichsten Maßnahmen durch den DAAD akademisch gefördert, weitere 3000 Universitätsangehörige beispielsweise durch IT-Maßnahmen weitergebildet. "In den letzten zwölf Jahren hat Afghanistan mit Hilfe des befreundeten Deutschland sehr viel im Bildungsbereich erreicht", so Asim Noorbakhsch, Sprecher des Hochschulministeriums gegenüber der Deutschen Welle. Sein Wunsch für die Zukunft: Er möchte, dass noch mehr afghanische Studenten in Deutschland promovieren, um dann in ihrer Heimat zu lehren.
Ein Wunsch, mit dem Kabul beim DAAD offene Türen einrennt: "Wir wollen die Zahl der Master- und PhD-Stipendien deutlich erhöhen", sagt Kupfer. Dabei will man sich nicht im akademischen Elfenbeinturm einrichten: "Wir stehen mit unseren afghanischen Partnern und den deutschen Hochschulen, die sich da engagiert haben, im Gespräch über das Thema Kompetenzzentren. Wir haben die Arbeitsmärkte im Blick, fragen, wie die in lokalen Räumen tätigen Unternehmen in einen Dialog einbezogen werden können."
Engpass an den Hochschulen
Das ist wohl noch Zukunftsmusik, ebenso wie die Einrichtung von Fernlehr-Angeboten. Über letztere werde mit den afghanischen Partnern gesprochen, die Uni Bochum habe bereits einen "E-Campus" für afghanische Nutzer vorbereitet. Fernstudien könnten laut Kupfer zumindest teilweise die wachsende Zahl der an die Hochschulen drängenden Bewerber auffangen, für die bei weitem nicht genügend Kapazitäten zur Verfügung stehen. So erhielten von 140.000 Bewerbern, die 2012 die zentrale staatliche Aufnahmeprüfung bestanden hatten, nur 41.000 einen Studienplatz.
Fast 50 Prozent der afghanischen Bevölkerung ist 15 Jahre und jünger. "Die Zahl der an die Hochschulen drängenden Schulabgänger ist ein gewaltiges Problem, wie eine Flutwelle, die sich immer weiter aufbaut und irgendwann umschlägt, und auf diesen Zeitpunkt muss man vorbereitet sein", so die Einschätzung Kupfers. Der Druck auf die Hochschulen nehme von Jahr zu Jahr zu, so dass es "auch bei bester Ausstattung" nicht möglich sein werde, dieser Flut Herr zu werden.
Dringend benötigte Berufsausbildung
Kupfer hält außerdem einen Wertewandel für nötig, um eine Akademikerschwemme und eine Masse frustrierter Studienbewerber in Afghanistan zu verhindern. "Es gibt bestimmte Berufe, wie in Deutschland auch, die mit Sozialprestige verbunden sind, und diese wollen alle erlernen. Das führt zum Beispiel zu großer Nachfrage nach Medizinstudienplätzen, aber niemand möchte in die Pflegeberufe." Bei dem "enormen Fachkräftemangel in Afghanistan", den Kupfer konstatiert, kommt die berufliche Ausbildung ins Spiel.
Um die kümmert sich auf deutscher Seite die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Gustav Reier, als Experte der GIZ in Kabul, bestätigt die Einschätzung seines Kollegen vom DAAD, dass Afghanistan aus der Rückständigkeit bereits große Schritte nach vorn gemacht hat, dass aber noch viel zu tun ist - mit großen Erfolgsaussichten. "Wir haben vor kurzem eine Bestandsaufnahme der 50 Berufsschulen in Afghanistan gemacht, die wir im Programm haben. Dabei haben wir zu unserer Überraschung festgestellt, dass es eine ganze Reihe neuer Schulgebäude gibt, beziehungsweise, dass solche im Bau sind, mit denen wir gar nichts zu tun haben", berichtet Reier im Gespräch mit der Deutschen Welle.
Langfristiges Denken gefragt
Wie Kupfer fordert auch Reier: "Wir müssen in langen Entwicklungszeiträumen denken. Bis das Berufsausbildungssystem flächendeckend wirkt, werden noch 20 bis 30 Jahre vergehen. Und das Land geht in diese Richtung, das kann ich hier deutlich erkennen." Jedes Jahr werden 300 bis 500 neue Berufsschullehrer neu eingestellt, die seit 2012 durch die Ausbildungszentren der GIZ in Kabul und Masar-i Scharif eine qualifizierte Ausbildung erhalten.
Dennoch ist der unerfüllte Bedarf gewaltig: Von rund 1,7 Millionen Jugendlichen im berufsbildungsfähigen Alter (15 bis 19 Jahre) haben erst 70.000 einen Ausbildungsplatz im Berufsbildungssystem des Landes. Für Reier aber kein Grund zur Klage: "Die informelle Wirtschaft in Afghanistan ist hochinteressant. Es gibt da eine funktionierende Lehrlingsausbildung wie in Deutschland im 19. Jahrhundert. Das wirtschaftliche Leben brummt, wenn man durchs Land fährt. Das kann man sehen", berichtet der Mann von der GIZ mit Begeisterung. Auf diesen informellen Strukturen wolle die GIZ aufbauen, um langfristig eine moderne Berufsausbildung zu institutionalisieren.
Zum Schwarzsehen kein Grund
Und was ist mit der Sicherheit und einem möglichen Rückfall in Taliban-Zeiten? Da ist Reier relativ unbesorgt: "Wir waren vor der Bundeswehr hier, und wir gehen davon aus, dass wir auch nach 2014 hier arbeiten." Das Erfolgsrezept: "Dass wir die Afghanen befähigen, selber Lehrerausbildung durchzuführen."
Und was ist mit der Förderung der Frauen durch Bildung? Frauen in Afghanistan interessierten sich vor allem für kaufmännische, sprachliche und IT-Berufe, "wie in Deutschland auch." Gegen eine Wiederkehr der Verhältnisse wie unter den Taliban "werden sich die Leute wehren", so der deutsche Entwicklungsexperte. Sein direkter Ansprechpartner bei der Regierung in Kabul sei "zwar konservativ, aber hoch analytisch, und der treibt die Dinge voran. Und die Leute in den städtischen Bereichen, mit denen ich zu tun habe, die spüren, was sie versäumt haben in den letzten 30 Jahren."