Bildergeschichten: jede Woche ein ungewöhnliches Bild
7. November 2012Stille Trauer, offizielle Trauer: Die "Gedenkstätte für die Gefallenen des Weltkriegs" wird 1931 eröffnet.
Unsere erste Bildergeschichte zeigt eine junge Frau, die trauert. Mit einem Blumenstrauß in der Hand steht sie in der Neuen Wache in Berlin, zu ihren Füßen eine Steinplatte mit der Inschrift "1914-1918". Neben ihr ein gewaltiger Block aus schwarzem schwedischem Granit, auf dem ein Eichenlaubkranz aus Metall liegt. Die Aufnahme entsteht 1931, als dieser Ort offiziell als "Gedenkstätte für die Gefallenen des Weltkriegs" eröffnet wird – und ein langer Streit um das richtige Gedenken an die Toten des Krieges endet. Vorerst jedenfalls.
Mit der Novemberrevolution von 1918 hat die Neue Wache, einst von Karl Friedrich Schinkel entworfen, als Königswache ausgedient. Immerhin bietet das leer stehende Gebäude 1924 drei obdachlosen Familien eine Notunterkunft, ehe es in den Debatten um ein Ehrenmal für die gefallenen Soldaten als Standort genannt wird. Einen entsprechenden Wettbewerb gewinnt Heinrich Tessenow, Professor für Architektur in Berlin, mit seiner Idee eines schlichten, kubischen Innenraums.
Doch stilles Gedenken ist der Gedenkstätte nicht lange beschieden. Wenn man so will, bringt ihr jeder politische Umbruch eine neue Umgestaltung: 1933 lassen die Nationalsozialisten ein großes Holzkreuz im Inneren anbringen (womit sie der Trauer einen ausschließlich christlichen Charakter geben wollen), nach der massiven Beschädigung im Zweiten Weltkrieg gedenkt die DDR hier "Den Opfern des Faschismus und Militarismus", 1969 halten ein großformatiges Staatswappen und eine ewige Flamme Einzug. In zwei Urnen ruhen die Asche eines unbekannten Soldaten und eines unbekannten Widerstandskämpfers sowie Erde von den großen Schlachtfeldern des Weltkriegs und neun Konzentrationslagern.
All das wird 1993 wieder herausgeschafft – jetzt dominiert eine vierfach vergrößerte Nachbildung der Kollwitz-Skulptur "Mutter mit totem Sohn" den Raum. Die etwas sperrige offizielle Bezeichnung lautet nun: "Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“. Die Namen für die Neue Wache mögen sich geändert haben, die Gestaltung auch. Die Trauer um die Toten bleibt – heute ebenso wie 1931.
Da strahlte die DDR. 1971: Rossendorf und der Stolz ostdeutscher Atomforschung.
Es gibt viele nützliche Tipps, wie man mit radioaktivem Material umgehen sollte. Zu den sinnvollsten gehört zweifelsohne die Empfehlung "Abstand halten" – wenn es sich denn einrichten lässt. Welche Wirkung das entsprechende Schild hatte, das einst am Heck eines DDR-Lieferwagen angebracht wurde, wissen wir nicht. Aufgenommen wurde das Bild im Jahr 1971 beim Beladen eines Fahrzeugs mit schwachradioaktivem Material im ehemaligen Kernforschungszentrum Rossendorf bei Dresden. Zu DDR-Zeiten war diese Anlage der ganze Stolz der ostdeutschen Atomforschung.
Als die Anlage in Rossendorf vor über 50 Jahren eröffnet wurde, hatte die DDR im prestigeträchtigen Wettrennen mit den westdeutschen Atomforschern nur den ungeliebten zweiten Platz belegt: Bereits am 31.10.1957 war in Garching bei München ein Forschungsreaktor als erstes deutsches Kernkraftwerk in Betrieb gegangen – erst am 16.12.1957 folgte Rossendorf. In jenen Jahren – geprägt vom Kalten Krieg und einer heute befremdlich anmutenden Begeisterung für eine atomare Zukunft – sorgte sich in Ost wie West selbstverständlich niemand um ein plausibles Entsorgungskonzept für den anfallenden Atommüll.
Als der Reaktor nach über 30 Jahren 1991 schließlich stillgelegt wurde, lagerten auf dem Gelände Brennelemente, Brennstäbe und andere strahlende Überreste. Das alles musste entsorgt werden, entstand doch hier ein neues Forschungszentrum, in dem heute angewandte Grundlagenforschung betrieben wird. Und so wurden im Jahr 2005 zunächst 951 abgebrannte Brennstäbe ins nordrhein-westfälische Zwischenlager Ahaus gebracht, wo heute noch zahlreiche von ihnen lagern. Später ging schwach angereichertes Uran per Schiff nach Kasachstan, und Ende 2006 hob von Dresden ein Flugzeug mit etwa 200 Kilogramm Uran russischer Herkunft ab. Ziel war die Atomforschungsanlage Podolsk südlich von Moskau, wo das Material wieder aufgearbeitet wird. An dem Flugzeug dürfte vermutlich kein Schild mit der Mahnung nach möglichst viel Abstand geprangt haben.
1924: Der "junge" Konrad Adenauer in erfolgreicher Pose.
Am Ende sind sie alle wieder glücklich oben. Gottlob, dem Oberbürgermeister von Köln ist nichts geschehen, nur mit staubgeschwärztem Gesicht lässt sich Konrad Adenauer im Jahr 1924 nach einer Grubenfahrt im Ruhrgebiet mit einigen Kumpeln ablichten (Auf dem Foto 2. von rechts). 48 Jahre jung ist Adenauer zu diesem Zeitpunkt – doch die meisten Deutschen haben ihn aufgrund seiner späten Kanzlerschaft nur als den „Alten“ in Erinnerung. Die Stadt Köln regiert er als Oberbürgermeister von 1917 bis 1933, zugleich glaubt man ihn schon damals zu weit Höherem berufen: Immer wieder wird er während der Weimarer Republik für das Amt des Reichskanzlers ins Gespräch gebracht.
Das Foto mit den Kumpeln zeigt: Adenauers wusste, wie wichtig die richtige Publicity ist. Darüber hinaus demonstriert es, wie sehr er sich um wichtige Dinge des Alltags bemühte - wozu gerade in Krisenzeiten die Versorgung mit der so wichtigen Steinkohle aus dem Ruhrgebiet zählte. Was freilich nur wenige wissen: Er macht sich auch als leidenschaftlicher Erfinder zahlreicher mehr oder weniger sinnvoller Neuerungen einen bescheidenen Namen. Zu seinen Kreationen zählt etwa 1917 eine Soja-Wurst. Im gleichen Jahr übrigens wird Adenauer (zu diesem Zeitpunkt der jüngste Oberbürgermeister im Deutschen Reich) in Köln in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt: Vermutlich war sein Chauffeur eingeschlafen, der Dienstwagen rammt eine Straßenbahn, und Adenauer schleudert durch die Trennscheibe – seine zahlreichen Verletzungen am Kopf müssen operativ behandelt werden.
So ist das leider mit vermeintlichen Märtyrern: Heute als Helden für die gute Sache gefeiert, sind sie morgen vielleicht schon wieder vergessen. Mit Philipp Müller verhält es sich so. Am 19. Mai 1952 zelebriert die KPD auf dem Münchener Westfriedhof eine kolossale Trauerfeier für den 21-Jährigen. Als Kämpfer für eine bessere Welt und verdientes Mitglied der „Freien Deutschen Jugend" wollen ihn die Genossen in Erinnerung behalten, was dann aber höchstens in der verordneten Erinnerungskultur der DDR gelingen sollte. Heute weiß kaum noch jemand, dass Müller der erste Demonstrant war, der in der Bundesrepublik durch Polizeigewalt ums Leben kam – und dass es im Westen einst überhaupt die FDJ gab.
Vor allem in den Industriestädten an Rhein und Ruhr erschien vielen nach Diktatur und Krieg der Kommunismus als vernünftige politische Alternative; die KPD war eine feste Größe. Und rund 13.000 westdeutsche Jugendliche schlossen sich der Freien Deutschen Jugend an. Sie präsentierte sich unter anderem als Hüterin der deutschen Einheit und protestierte etwa mit spektakulären Helgoland-Fahrten gegen die Nutzung der Insel als britisches Bombenabwurfziel. Doch zunehmend geriet die Organisation unter die Fuchtel der ostdeutschen SED, die sie als nützliche Kolonne im Kampf gegen das verhasste „Adenauer-Regime" einsetzte. Darauf reagierte die Bonner Regierung 1951 mit dem Verbot der Jugendorganisation im Westen.
Doch im Untergrund blieben viele FDJler aktiv. Und als die Stadt Essen am 11. Mai 1952 ihr 1100-jähriges Bestehen feierte, mischten auch sie sich unter die 30.000 Demonstranten einer „Friedenkarawane" gegen die Wiederbewaffnung. Als die Polizei die Versammlung auflöste, kam es zu Schlägereien und Steinwürfen. Aus einer Polizeipistole fielen Schüsse – und Philipp Müller wurde tödlich getroffen. Als er einen Stein aufheben wollte, behauptete die Polizei; als er sich vor den Schüssen duckte und in Sicherheit bringen wollte, erklärten andere Demonstranten. Es war Notwehr, urteilte später das Landgericht Dortmund.
1952: der erste getötete Demonstrant in der Geschichte der Bundesrepublik.
So ist das leider mit vermeintlichen Märtyrern: Heute als Helden für die gute Sache gefeiert, sind sie morgen vielleicht schon wieder vergessen. Mit Philipp Müller verhält es sich so. Am 19. Mai 1952 zelebriert die KPD auf dem Münchener Westfriedhof eine kolossale Trauerfeier für den 21-Jährigen. Als Kämpfer für eine bessere Welt und verdientes Mitglied der „Freien Deutschen Jugend" wollen ihn die Genossen in Erinnerung behalten, was dann aber höchstens in der verordneten Erinnerungskultur der DDR gelingen sollte. Heute weiß kaum noch jemand, dass Müller der erste Demonstrant war, der in der Bundesrepublik durch Polizeigewalt ums Leben kam – und dass es im Westen einst überhaupt die FDJ gab.
Vor allem in den Industriestädten an Rhein und Ruhr erschien vielen nach Diktatur und Krieg der Kommunismus als vernünftige politische Alternative; die KPD war eine feste Größe. Und rund 13.000 westdeutsche Jugendliche schlossen sich der Freien Deutschen Jugend an. Sie präsentierte sich unter anderem als Hüterin der deutschen Einheit und protestierte etwa mit spektakulären Helgoland-Fahrten gegen die Nutzung der Insel als britisches Bombenabwurfziel. Doch zunehmend geriet die Organisation unter die Fuchtel der ostdeutschen SED, die sie als nützliche Kolonne im Kampf gegen das verhasste „Adenauer-Regime" einsetzte. Darauf reagierte die Bonner Regierung 1951 mit dem Verbot der Jugendorganisation im Westen.
Doch im Untergrund blieben viele FDJler aktiv. Und als die Stadt Essen am 11. Mai 1952 ihr 1100-jähriges Bestehen feierte, mischten auch sie sich unter die 30.000 Demonstranten einer „Friedenkarawane" gegen die Wiederbewaffnung. Als die Polizei die Versammlung auflöste, kam es zu Schlägereien und Steinwürfen. Aus einer Polizeipistole fielen Schüsse – und Philipp Müller wurde tödlich getroffen. Als er einen Stein aufheben wollte, behauptete die Polizei; als er sich vor den Schüssen duckte und in Sicherheit bringen wollte, erklärten andere Demonstranten. Es war Notwehr, urteilte später das Landgericht Dortmund.
1896: Das Kaiserreich stellt seine Kolonien zur Schau "Ich hab’ da eine Hütte in Berlin".
Eine Unterkunft mitten in Berlin, fotografiert im Jahr 1896: Eingeborene aus der damaligen deutschen Kolonie Togo müssen so tun, als seien sie hier daheim – dabei befinden sie sich auf einem 60.000 Quadratmeter großen Gelände im Treptower Park. Anhänger der noch jungen deutschen Kolonialbewegung haben hier "unsere Kolonien" nachempfunden, Palmen und Tropenpflanzen herangeschafft, afrikanische Hütten oder arabische Befestigungsanlagen nachgebaut. Diese "Deutsche Kolonialausstellung" soll Deutschlands Größe im Kleinen spiegeln – und insgesamt 103 "Eingeborenen" aus den fernen Besitzungen sollten der exotischen Schau Authentizität verleihen.
Mit den Veranstaltern haben die Bewohner der Kolonien vertraglich vereinbart, zu festgelegten Zeiten ihre Handwerkskunst zu zeigen oder – nachmittags ab drei Uhr – Vorführungen und Tänze zu präsentieren. Alles ist preußisch-ordentlich organisiert: die regelmäßigen Weckzeiten (um sechs Uhr morgens), die Mahlzeiten (Frühstück mit "Tee und für jede Person 2 Schrippen", Abendessen einschließlich "einer Flasche Bier und einem Esslöffel Rum für jeden") oder die regelmäßigen ärztlichen Untersuchungen (die allerdings nicht verhindern können, dass drei der Akteure an Lungenentzündung sterben). Die deutschen Besucher dürfen die Hütten der "Eingeborenen" betreten, ihre Gebrauchs- und Kultgegenstände betrachten oder an ihren Festen teilnehmen. Und auf Wunsch gibt es besondere Leckerbissen: So singen Massai-Krieger in voller Kriegsausrüstung "Deutschland, Deutschland über alles", "Die Wacht am Rhein" oder "Heil Dir im Siegerkranz" – das wärmt das deutsche Kolonialherz.
Nachdem die Deutschen tagsüber begeistert durch "ihre Kolonien" gezogen sind und sich an deren Menschen satt gesehen haben, drehen diese aber des Abends zuweilen den Unterhaltungsspieß um: Dann machen sich die "Eingeborenen" einen Spaß daraus, mit nachgemachten Monokeln und Spazierstöcken die Bürger oder Offizieren nachzuahmen, die sie tagsüber begafft hatten…
Sind so kleine Hände - 1929: Kinderarbeit in Deutschland
1929, irgendwo in Berlin: Armut und Massenarbeitslosigkeit prägen zunehmend das Gesicht der Hauptstadt, verzweifelte Menschen suchen mit Schildern nach "Arbeit um jeden Preis". Und inmitten dieser Szenerie zieht ein Junge einen schweren Handwagen mit leeren Kisten durch die Straßen, vielleicht haben ihn einige Kaufleute mit Aufträgen versorgt, ganz sicher erhält er dafür nur ein Taschengeld. Die Zeitschrift "Tempo" veröffentlichte dieses Bild in ihrer Serie über "Arbeitende Großstadtjugend". Sie dokumentierte, dass Kinder auch in der Weltwirtschaftskrise arbeiten mussten, wenn es in den Familien am Lebensnotwendigen fehlte.
Mit Beginn der Industrialisierung war Kinderarbeit fester Bestandteil deutschen Alltags – Minderjährige schufteten in Manufakturen, in Bergwerken oder bei der Heimarbeit. Dieser Missstand wurde erstmals 1839 in Preußen eingegrenzt, als regelmäßige Kinderarbeit in Fabriken oder Hütten für Kinder unter neun Jahren verboten wurde, 1855 war Fabrikarbeit nur noch ab dem zwölften Lebensjahr erlaubt. Erst 1903 wurde im Kinderschutz-Gesetz der Arbeitsschutz auf alle gewerblichen Betriebe ausgedehnt. Allerdings wurden solche Schutzbestimmungen in Krisenzeiten – etwa während der Weltkriege – faktisch außer Kraft gesetzt. Heute dämmt das Jugendarbeitsschutzgesetz die Kinderarbeit weitgehend ein.
Weltweit arbeiten allerdings derzeit schätzungsweise 250 Millionen Kinder unter 14 Jahren – in der Landwirtschaft und in kleinen Werkstätten, in Steinbrüchen oder als Straßenverkäufer. Auch deutsche Konsumenten profitieren davon, weil viele der Kinderarbeiter für den Export schuften: in Textilfabriken, auf Kakao- oder Kaffeeplantagen. Kinderschutzorganisationen rufen deshalb dazu auf, beim Kauf entsprechender Produkte auf Sozialsiegel zu achten und so auf die Produktionsbedingungen Einfluss zu nehmen. Der 12. Juni wird in diesem Jahr zum zehnten Mal als "Welttag gegen Kinderarbeit" begangen – um ins Bewusstsein zu rufen, wie auch unsere Welt von den schuftenden kleinen Händen profitiert.
1965: Die Ruhr-Universität nimmt den Lehrbetrieb auf: Bochum, Bildung und Beton.
Dieses Foto ist nicht gestellt. Es trug sich wirklich so zu: Während im Vordergrund der wackere Landmann mit Hilfe seines Pferdes das Heu wendet, wachsen auf der anderen Seite des kleinen Tals die riesigen Beton-Bauten in die Höhe, die von einer neuen Zeit künden sollen. Die Bildungseuphorie der 60er Jahre findet ihr Symbol im Bau der Ruhr-Universität in Bochum. Es ist die erste Universitätsgründung in der Geschichte der Bundesrepublik. Das Gelände gilt zeitweise als größte Baustelle Europas – was alle Beteiligten mit Stolz erfüllt.
Bis zu diesem Zeitpunkt ist Bochum nicht mehr und nicht weniger als die Hauptstadt des deutschen Bergbaus – der allerdings schon längst erkennbar in die Krise geraten ist. Da trifft es sich gut für die Stadt, dass sie im heftigen Wettstreit um die Universität alle Konkurrenten aus dem Feld schlagen kann, zum Schluss noch die Nachbarstadt Dortmund. Es war auch ein parteipolitischer Sieg: Die SPD wollte die neue Universität nach Dortmund holen, die CDU-geführte Landesregierung machte sich hingegen für den Standort Bochum stark. Mit Erfolg.
Es ist die Architektur der Ruhr-Universität, die in den Folgejahren immer wieder in die Kritik gerät. Sichtbarer Beton ist hier das Gesicht einer neuen Zeit, oft genug geht in der Wahrnehmung des neuen Hochschul-Standorts verloren, welche hervorragenden Studienbedingungen hier entstehen. Für das Ruhrgebiet ist die Universität fraglos das Tor zu einer neuen Welt: Vielen Kindern aus Arbeiterfamilien macht die räumliche Nähe zur Uni erst ein Studium möglich, vor allem junge Frauen nutzen ihre Chance auf höhere Bildung und Eigenständigkeit.
Übrigens hat auch Dortmund kurze Zeit später seine Universität bekommen – doch nach den Jahren der Konkurrenz scheint inzwischen eine andere Zeit im Ruhrgebiet angebrochen zu sein: Die Universitäten Bochum, Dortmund und Essen-Duisburg mit zusammen fast 100.000 Studierenden kooperieren seit fünf Jahren in der "Universitätsallianz Metropole Ruhr". Vielleicht wächst hier ein neuer, noch eindrucksvollerer Standort einer Universität des Ruhrgebiets heran …
1932: Winnetou geht baden - Carl Zuckmayer bringt seiner Tochter das Schwimmen bei.
Generationen von deutschen Jungen (und zuweilen auch Mädchen) haben sich einst in die Welt des legendären Apachen-Häuptlings Winnetou geträumt. Doch nur wenige wagten es, ihren Traum auch auf andere zu übertragen. Der Schriftsteller Carl Zuckmayer tat es: Der bekennende Karl-May-Verehrer gab seiner 1926 geborenen Tochter den Namen Winnetou. Das Bild zeigt ihn, wie er der Sechsjährigen gerade Schwimmunterricht erteilt – mit ein wenig Phantasie lässt sich dabei an die Indianer denken, die Karl May in seinen Geschichten so elegant wie lautlos durchs Wasser gleiten ließ.
Für den Schriftsteller sind es gute Jahre: Seine Theaterstücke ziehen bereits ein großes Publikum an, 1931 feiert er mit der Uraufführung seines "Hauptmanns von Köpenick" seinen – auch finanziell – größten Erfolg. Er arbeitet vor allem in Berlin, daheim ist er seit einigen Jahren in der Nähe von Salzburg. Von den Nazis verhasst, lebt er zunächst weiter in Österreich, ehe er 1938 vor den Deutschen nach Frankreich und schließlich in die USA emigrieren muss.
Um dort zu überleben, versuchen es die Zuckmayers seit 1941 auch als Farmer (bei Karl May hätte man sie vermutlich eher "Siedler" genannt) in den "Grünen Bergen" von Vermont. Eine ebenso neue wie beschwerliche Erfahrung. Die Eltern kauften sich Ziegen, so erinnerte sich später Tochter Winnetou, weil sie sich Kühe nicht leisten konnten – dabei wussten Vater und Mutter nicht einmal, wie Ziegen zu melken sind …
Zuckmayers Stücke sind in Deutschland heute nach wie vor präsent – doch mehr noch die wahren Geschichten vom Häuptling Winnetou. Er ist fraglos einer der populärsten Figuren der Kulturgeschichte, die eigentlich nur einen Schönheitsfehler hat: dass erstaunlicherweise auch Pierre Brice nicht ewig jung ist und dass er bei den Karl-May-Festspielen in Bad Segeberg nicht mehr auf der Bühne – pardon: auf dem Pferd – zu sehen ist.
Vom "Wehrwirtschaftsführer" zum KZ-Häftling - 1948: Fritz Thyssen wird als "Mitläufer" eingestuft.
Ein Mann vor seinem Richter. Gleich wird das Urteil über ihn gesprochen. Der 74-Jährige hat sich in den vergangenen Wochen wegen seiner Unterstützung der Nationalsozialisten verantworten müssen. Jetzt, am 2. Oktober 1948, gibt die deutsche Spruchkammer Obertaunus in Königstein ihre Entscheidung bekannt: Fritz Thyssen, einst einer der prominentesten Förderer der NSDAP, wird zu einem "Minderbelasteten" erklärt und gilt fortan als "Mitläufer".
Damit kommt eine der schillerndsten Gestalten der Zeitgeschichte wieder auf freien Fuß. Als Sohn August Thyssens in die Rolle des Großindustriellen hineingewachsen, engagiert sich Fritz zunehmend politisch. Spätestens nachdem ihn Mitglieder des Mülheimer Arbeiter- und Soldatenrates 1918 kurzzeitig festsetzten, kämpft Thyssen gegen alles "Linke": gegen den "Bolschewismus", die SPD und gegen die Gewerkschaften.
Thyssen gibt sich vaterländisch-patriotisch: 1923 wird er als "nationaler Held" gefeiert, weil er sich weigert, während der Ruhrbesetzung den Franzosen die verlangten Kohlekontingente zu liefern. Finanziell unterstützt er früh die NS-Bewegung. Er wird eifriger Finanzier Hitlers – und macht den selbsternannten Führer in der Großindustrie salonfähig. Nach 1933 steigt das NSDAP-Mitglied Thyssen dafür zum "Wehrwirtschaftsführer" auf.
Die grausame Wirklichkeit des Dritten Reiches realisiert Thyssen viel zu spät. 1939 setzt er sich ins Ausland ab und kritisiert Hitler und seinen Weg in den Krieg. Dafür bezahlt er 1940 mit seiner Verhaftung in Südfrankreich: Gemeinsam mit seiner Frau wird er für anderthalb Jahre in eine Psychiatrie gesperrt und sitzt anschließend als sogenannter "Sonderhäftling" in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Buchenwald und Dachau ein. 1945 von den Amerikanern interniert, bedeutet das Urteil vom 2. Oktober 1948 die Entlassung nach fast acht Jahren Haft. Seine Freiheit kann er indes nicht lange genießen: 1951 stirbt Fritz Thyssen in Argentinien.
Eine deutsche Frau raucht nicht? 1910: Noch wird lächelnd für Zigaretten geworben.
Purer Genuss – jedenfalls für die damalige Zeit: Eine junge Frau wirbt schulterfrei und mit Blume im Haar für eine gepflegte Rauchpause. Dieses Foto entstand um das Jahr 1910, und das Rauchen war zumindest für die Männer noch eine Selbstverständlichkeit. Und gerade in den Städten der 1920er Jahre traten Frauen mit einer Zigarette in der Hand immer selbstbewusster auf. Doch – und darüber kann auch dieses demonstrative Lächeln nicht hinwegtäuschen – rauchende Frauen hatten es schwer.
Den meisten Deutschen galt das Rauchen bei Frauen schlicht als anzügliches Verhalten. Die weit verbreitete Vorstellung, wonach eine deutsche Frau nicht zum Glimmstängel greifen dürfe, war dominant. Und gerade in der NS-Zeit wurde diese Vorstellung neu belebt, als man die deutsche Frau auf ihre biologische Funktion als Mutter reduzierte. Ihre Gesundheit schien besonders schützenswert – und der Genuss von Nikotin galt als eklatanter Verstoß gegen diese ideologisch verordnete Rollenzuschreibung.
Der NS-Staat sagte dem blauen Dunst generell den Kampf an, und auch die ersten Schritte zum Nichtraucherschutz fallen in diese Zeit. So erhielten alle Züge Nichtraucherabteile, und viele Städte untersagten das Rauchen in Straßenbahnen. Dabei hatten auch die Nazis mit Glimmstängeln einst Geld verdient: Für sie vertrieb Ernst Röhms SA bis 1934 eine Zigarettenmarke mit dem programmatischen Namen "Sturm", wodurch beachtliche Summen in die Kasse gespült wurden. Und was die Nazis konnten, versuchten auch die Sozialdemokraten: Am Ende der Weimarer Republik brachten sie eine "Freiheits-Zigarette" auf den Markt. Doch mit der Freiheit war es in Deutschland bekanntlich schon bald darauf vorbei – und damit zugleich mit der nach ihr benannten Zigarette.
Eine eigene Partei-Zigarette würde heute in Zeiten des Nichtraucherschutzes niemand mehr präsentieren. Längst drängen sich die letzten Raucher vor den Türen von Betrieben und Lokalen in kleinen, unansehnlichen Suchtgruppen, keiner von ihnen würde heute schulterfrei und blumengeschmückt für ein Erinnerungsfoto posieren. Vielleicht mögen sie sich mit der Erkenntnis trösten, dass sie nicht die ersten Opfer sinnvoller Nichtraucher-Vorschriften sind: Das erste bekannte Tabakverbot der Welt stammt schließlich aus dem Jahr 1575 – es untersagte das Rauchen in mexikanischen Kirchen.
Schau, was kommt von draußen rein. 1929: Der erste deutsche Fernsehfilm wird gesendet.
Das sind Imogen Orkutt (links) und Schura von Finkelstein (rechts). Nun gut, man kann sie kaum erkennen, aber trotzdem haben sie mit diesem Auftritt Fernsehgeschichte geschrieben: Dieses Foto zeigt eine Szene aus dem ersten Fernsehfilm, der in Deutschland gesendet wurde. Es ist das Jahr 1929 – und der Sender Witzleben strahlt den Film in das nahe Stadtgebiet Berlins. „Wochenende“ (so heißt der knapp zehnminütige Streifen) ist leider noch ein Stummfilm, weshalb der Betrachter wohl kaum wahrnimmt, dass die beiden Damen auch singen, nämlich "Horch, was kommt von draußen rein“.
Aber nun wird dieser Film ja auch nicht in erster Linie zur Unterhaltung eines kaum vorhandenen Publikums gesendet, sondern zu Testzwecken. Aufgeregte Techniker erfreuen sich an den wenigen Zentimeter kleinen Bildschirmen ob der funktionierenden Übertragung des Bildes. Da macht es nichts, dass sich fast nichts erkennen lässt – das Bild besteht nur aus 30 Zeilen. Erst einige Jahre später gelingen Darstellungen mit über 400 Zeilen, wodurch auch die Mimik von Darstellern erkennbar wird.
Ab 1935 werden Bild und Ton gemeinsam übertragen, als in Deutschland der erste regelmäßige Fernsehprogrammbetrieb der Welt eröffnet wird. Die Nazis setzen anfangs große Hoffnungen auf das vermeintlich neue Propaganda-Medium: Zur Olympiade 1936 richtet die Post in Berlin, Leipzig und Potsdam 28 Fernsehstuben ein, in denen Fernsehbilder von den Spielen empfangen wurden. Doch ihren ehrgeizigen Plan, das Fernsehen zu einem Volksmedium zu machen, müssen die Machthaber im Zweiten Weltkrieg aufgeben: Es gab nicht mehr als 500 Fernsehempfänger im Land – für manchen Fernsehkritiker unserer Zeit, der die Kinder heute gerne von der Glotze weglocken möchte, fraglos eine attraktive Zahl …
Imogen Orkutt flieht übrigens 1939 mit ihrem Mann, dem jüdischen Chirurgen Georg Cohn, vor der Verfolgung durch die Nazis nach Palästina – und kehrt erst 1956 nach Deutschland zurück. Nach dem frühen Tod ihres Mannes sorgt sie allein für den Sohn, erst arbeitet sie in einer Wäscherei, dann in einem Tabakladen in München. Sie stirbt im Jahr 2000. Die Spuren Schura von Finkelsteins verlieren sich hingegen in der Nazizeit – wahrscheinlich hat sie den Holocaust nicht überlebt.
Das Geschäft mit Opel - 1938: Noch erfreut sich General Motors an seiner Tochter.
Das Geschäft läuft gut; trotz der Nazis, trotz Diktatur und Verfolgung. Die Adam Opel AG verzeichnet volle Auftragsbücher – das Foto zeigt fabrikneue Opel Kadett, die im Werkshafen von Rüsselsheim für den Export verladen werden. Ein Drittel der in diesem Jahr gebauten über 100.000 Fahrzeuge wird ins Ausland verkauft. Doch die meisten Pkw setzt der Autokonzern aufgrund der Mobilitätsoffensive des NS-Staates im Inland ab. Zu den guten Kunden des Hauses zählt die Wehrmacht: 1938 ordern die Militärs – schon in Vorbereitung künftiger Feldzüge – bereits 29 Prozent aller produzierten Lastwagen der Marke "Opel Blitz".
Die Besitzer des Konzerns können sich allerdings nicht freuen, weil die restriktive deutsche Devisenpolitik seit Jahren die Abschöpfung der Gewinne verhindert. Dabei hatte die General Motors Corporation 1929 das Rüsselsheimer Unternehmen – damals größter Automobilhersteller außerhalb der USA – erworben, um sich gewinnbringend auf dem europäischen Markt zu positionieren. Seitdem die Nazis an der Macht sind, versucht sich die Konzernzentrale mit ihnen zu arrangieren: "Ein weltweit tätiger internationaler Konzern sollte seine Unternehmungen auf rein geschäftlicher Ebene betreiben", so erklärt GM-Präsident Alfred P. Sloan 1939, "ohne Rücksicht auf die politischen Ansichten seines Managements oder der Staaten, in denen er tätig ist."
Doch die Realität ist bald eine andere. Die Amerikaner müssen sich schließlich zunehmend aus dem Unternehmen zurückziehen, damit es möglichst "deutsch" wirkt; mit Beginn des Krieges geht ihr Einfluss weitgehend verloren. Dann stellt sich Opel so vorbehaltlos in den Dienst der Rüstungssache, dass die NS-Führung darauf verzichtet, das Werk als "Feindvermögen" offiziell zu beschlagnahmen. Erst 1948 übernahm General Motors wieder seine Rüsselsheimer Tochter – zwischenzeitlich durchaus mit Erfolg, in jüngster Zeit aber bekanntermaßen ohne große Freude. So gut wie einst läuft das Geschäft eben nicht mehr.
Auch Männer machen Fortschritte - 1988: Die SPD stimmt für die Frauenquote
Nun soll man politische Zustimmung ja nicht am Gesichtsausdruck messen, aber erkennbar sind nicht alle Männer des SPD-Bundesvorstandes begeistert von dem, was sie da gerade tun. Doch da es für sie nun mal "Fortschritt nur mit uns" gibt (das Plakat haben ihnen die Genossinnen einfach vor die Nase geklebt), stimmen die Herren der sozialdemokratischen Schöpfung unter Vorsitz von Hans-Jochen Vogel nun einmal für die Frauenquote. So geschehen am 30. August 1988 während des Bundesparteitags in Münster. Seither gilt in der SPD eine 40-prozentige Geschlechterquote für Ämter und Mandate.
Allerdings waren die Frauen in der SPD nicht die ersten, die die Quote durchsetzen konnten. Schon 1979 hatten nämlich die Grünen verbindlich beschlossen, mindestens die Hälfte aller Ämter weiblich zu besetzen. Die noch junge Partei war damit auch in dieser Frage gleichermaßen Schreckgespenst wie Ideengeberin für die etablierten Parteien – aber mit der Zeit zogen bekanntlich alle anderen nach, die CDU 1996 mit ihrem "Quorum", und vor zwei Jahren sogar die CSU.
Aktuell wird vor allem der Anteil der Frauen an den Spitzenpositionen in der Wirtschaft diskutiert. Und wieder fordern auch Sozialdemokratinnen einen geregelten Zugang zur Macht. 40 Prozent der Aufsichtsratsposten der börsennotierten Unternehmen sollen demnach von Frauen besetzt werden. Das geht vielen dann doch zu weit – nicht nur Männern: "Solange ich Ministerin bin", so wurde Bundesfamilienministerium Kristina Schröder unlängst zitiert, "wird es keine starre Quote geben." Dabei hatte doch die Christdemokratin bei der Bundestagswahl 2002 selbst vom Frauenquorum profitiert.
So hat man heute zuweilen den Eindruck, einflussreiche Frauen agieren gegen die Quote, einflussreiche Männer hingegen dafür. Es hat sich inzwischen einiges geändert seit 1988, im Land ebenso wie in der SPD. Ihr derzeitiger Vorsitzender (immer noch ein Mann) kann allerdings gerade nicht zu dem Thema Stellung nehmen – noch bis Mitte September befindet sich Sigmar Gabriel in Elternzeit, derweil seine Lebensgefährtin wieder arbeiten geht. Wer sagt‘s denn: Auch Männer machen Fortschritte.
Freiwahl! 1949: Der erste Selbstbedienungsladen der Nachkriegszeit
Ein wenig ungläubig schauen sie noch, die Kundinnen des ersten Selbstbedienungsladens der Nachkriegszeit: Bewaffnet mit einem der noch ungewohnten Einkaufswagen (für die sie übrigens weder Chip noch Münze brauchen) sollen sie nun selbst ihre Lebensmittel auswählen, wo bislang doch immer eine Verkäuferin Beratung und Bedienung übernommen hatte. "Freiwahl-Laden" nennt sich das neue Geschäft, das am 30. August 1949 in Hamburg eröffnet und von der Konsumgenossenschaft "Produktion" betrieben wird.
Dieser Schritt war für die 1899 gegründete gewerkschaftsnahe Genossenschaft die logische Fortsetzung ihrer jahrzehntelangen Bemühungen: Wie andere dieser seit der Jahrhundertwende entstandenen Zusammenschlüsse zielt sie darauf, Nahrungsmittel zu möglichst günstigen Preisen für breite Käuferschichten zur Verfügung zu stellen – Solidarität statt Ausbeutung.
Schon die Freien Gewerkschaften des Kaiserreichs hatten ihre Mitglieder 1906 aufgefordert, "die Genossenschaftsbewegung in Deutschland aufs tatkräftigste zu unterstützen", und 1910 erklärte die SPD, das "Eintreten für die Konsumvereine entspricht den Klasseninteressen des Proletariats".
Da sich viele Genossenschaften als Vorreiter der Modernisierung verstanden, lag es nahe, dass sie auch das Modell eines "Freiwahl-Ladens" ausprobierten, um für ihre Mitglieder die Kosten möglichst niedrig zu halten. Gerade in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg war dies nötiger denn je. Dass schwedische Konsumgenossenschaften hierbei bereits mit entsprechenden Beispielen vorausgegangen waren, dürfte für das Hamburger Projekt ebenfalls von Bedeutung gewesen sein – eingeführt worden war das Selbstbedienungsprinzip allerdings schon lange zuvor in den USA.
Zugleich setzte ein Siegeszug der Selbstbedienung ein, der heute alle Lebensbereiche erfasst hat – vom Selbsttanken beim Auto bis hin zum Telebanking. Mit genossenschaftlichem Denken hat dies längst nichts mehr zu tun, aber immer mit dem ständigen Zwang zu Rationalisierung und Kosteneinsparung.
Tod an der Bernauer Straße - 1961: Berlin trauert um Ida Siekmann, die beim Sprung in die Freiheit stirbt.
Der Regierende Bürgermeister von Berlin erweist der Toten seinen Respekt: Willy Brandt steht an diesem 29. August 1961 am offenen Grab von Ida Siekmann, die eine Woche zuvor beim Sprung in die Freiheit starb. Ihr Tod erschüttert die West-Berliner: Sie erleben in diesen Tagen unmittelbar nach dem Mauerbau viele dramatische Momente an der Sektorengrenze. Dass aber eine verzweifelte Frau aus dem dritten Stock ihres Hauses springt, erschüttert die Menschen in der Stadt.
Es ist der Tag vor ihrem 59. Geburtstag, als Ida Siekmann morgens um 6.50 Uhr das Fenster ihrer Wohnung an der Bernauer Straße 48 öffnet. Das Haus liegt genau auf der Grenze, die seit dem 13. August 1961 abgeriegelt wurde. In den ersten Tagen danach spielen sich hier dramatische Fluchtszenen ab, die auch außerhalb Berlins für Empörung und Trauer sorgen. Um die Menschen zu stoppen, lässt die DDR-Führung auch die Türen zum rettenden West-Berliner Bürgersteig verbarrikadieren.
Auch Ida Siekmann hat gerade erleben müssen, dass die Tür ihres Hauses verschlossen wurde. Die Alleinstehende packt ihr Bettzeug und einige Kleidungsstücke zusammen und wirft sie aus dem dritten Stock auf den Bürgersteig. Es ist bis heute nicht geklärt, warum sie es jetzt offenbar sehr eilig hat – vielleicht war ihr Vorhaben entdeckt worden. Jedenfalls kommt die West-Berliner Feuerwehr, die schon in den Tagen zuvor mit Sprungtüchern Flüchtlinge aufgefangen hat, nicht schnell genug zur Hilfe. Beim Aufprall zieht sich die Frau schwere Verletzungen zu, an denen sie noch auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt.
Es ist der erste Todesfall an der Berliner Mauer. Schon im September 1961 entsteht ein kleines Denkmal für Ida Siekmann, später gedenken hier auch ausländische Staatsgäste der Opfer der Teilung. Denn Ida Siekmann war nur die erste der später so genannten "Mauertoten", von denen wir heute oft genug nicht einmal ihre Identität kennen. Wie vermerkte an jenem 22. August 1961 der Tagesrapport der Ost-Berliner Volkspolizei: "Die S. wurde durch die Westfeuerwehr abtransportiert. Die Blutlache wurde mit Sand abgedeckt." Die Spuren in der deutschen Geschichte ließen sich so allerdings nicht verdecken.
Und der Zukunft zugewandt… 1953: Der Komponist Hanns Eisler geht schlecht gelaunt nach Hause.
Der wackere Schutzmann scheint diesen Moment ein wenig zu genießen: Die West-Berliner Polizei hatte sich am 17. Juli 1953 einen der bekanntesten Köpfe der jungen DDR geschnappt und ihn demonstrativ mit auf die Wache genommen: Hanns Eisler, der Musiker und Komponist, Schöpfer der DDR-Hymne und eines der kulturellen Aushängeschilder Ost-Berlins. Man warf ihm vor, sich im volltrunkenen Zustand eine Schlägerei mit Polizisten am Bahnhof Zoo geliefert zu haben. So jedenfalls kolportiert es die westliche Boulevard-Presse in der politisch aufgeheizten Atmosphäre einen Monat nach dem Aufstand vom 17. Juni in der DDR. Soweit es sich heute rekonstruieren lässt, hat es wohl doch keine Prügel gegeben, aber fraglos unschöne Pöbeleien. Denn Hanns Eisler hatte wieder einmal eine seiner gelegentlichen – pardon – Sauftouren unternommen. Die ist nun erkennbar zu Ende, der Künstler kann nach Hause gehen.
Nach Hause? Rückblickend muss man sich fragen, ob die DDR wirklich das Zuhause dieses Mannes sein konnte, der ein Weltbürger war, zerrissen und getrieben von den Zäsuren und Katastrophen des 20. Jahrhunderts: 1898 in Leipzig geboren, verbringt er Kindheit und Jugend in Wien, muss für zwei Jahre in den Ersten Weltkrieg ziehen, ehe er Schüler von Arnold Schönberg wird. Seine Arbeit vor allem mit Ernst Busch und Bertolt Brecht macht ihn berühmt und berüchtigt, als Revolutionär versteht er sich, arbeitet mit den Wiener Arbeiterchören, komponiert Kampflieder und schafft die Musik für den Film "Kuhle Wampe". 1933 verjagen ihn die Deutschen, bis 1938 findet er Zuflucht in verschiedenen europäischen Ländern, dann für zehn Jahre in den USA. Nach einem Jahr in Wien siedelt er dann 1949 in die DDR über.
Heute wird Hanns Eisler (wie oft genug schon zu Lebzeiten) auf seinen musikalischen Klassenkampf reduziert, zuweilen auf seine Vertonung von Johannes R. Bechers "Auferstanden aus Ruinen". Vergessen wird sein gewaltiges Engagement, mit dem er für musikalische und politische Ideale focht, seine intellektuelle Reichweite und seine Fähigkeit, Menschen zu unterhalten. Politische Irrtümer sind in einem solchen Leben nicht nur möglich, sondern eigentlich zwingend notwendig; seiner Anerkennung als feste Größe deutscher Kulturgeschichte steht das aber im Wege. Vor 50 Jahren, am 6. September 1962, starb Hanns Eisler. Möglicherweise erinnern sich die Nachgeborenen zu diesem Anlass auch daran, dass Eisler am liebsten auf verstimmten Kneipenklavieren spielte. Vielleicht hatte so ja auch jene Tour im Juli 1953 begonnen…
Kein Foto! Eine berühmte Reiterin versteckt sich
Diese Frau möchte nicht fotografiert werden. Mehr noch: Sie will möglichst gar nicht erkannt werden, sie will einfach nur in Ruhe ihrer Leidenschaft nachgehen, dem Reiten. Schon als Jugendliche liebte sie, angeregt und unterstützt von ihrem Vater, solche Ausritte. Als Erwachsene wendet sich die sportliche Frau gezielt dem Reitsport zu, und dabei kann es ihr gar nicht schnell genug gehen. Am liebsten ist ihr eine ordentliche Parforcejagd, bei der sie sich – der Zeit entsprechend – auf einem dafür eigentlich höchst unpraktischen Damensattel im Wettstreit mit den Männern misst. Diese Frau ist einfach etwas Besonderes. Kein Wunder: Sie ist schließlich Sissi, die Kaiserin von Österreich.
Wann dieses Bild aufgenommen wurde, lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren, vermutlich zeigt es Sissi, geboren 1837, etwa als 40-Jährige. Zu diesem Zeitpunkt galt sie schon vielen Zeitgenossen schlicht als die schönste Frau Europas. Doch für diesen Eindruck hat die Monarchin lange und hart arbeiten müssen: In ihrer frühen Jugend galt sie als "nicht schön genug", um an den europäischen Höfen als gute Partie gehandelt zu werden. Das änderte sich, und die zierliche Frau mit der Tendenz zur Untergewichtigkeit (sie wog bei einer Größe von 172 Zentimetern weniger als 50 Kilogramm) achtete penibel auf ihr Aussehen. Sie verbrachte viele Stunden am Tag mit der Pflege ihrer Haare – die ihr bis zu den Füßen reichten.
Körperpflege und Sport gehörten für die Kaiserin untrennbar zusammen. Und überhaupt war ihr Bewegungsdrang legendär. Um ihn einigermaßen zu stillen, ließ sie sich in der Wiener Hofburg ein eigenes Turnzimmer einrichten; mit einer Sprossenwand, einem Reck und ein Paar Ringen für die täglichen Übungen. Und dann schwang sie sich bei jeder Gelegenheit aufs Pferd: Sie wurde bewundert in ihren hautengen Reitkleidern – pflegte aber ihr Gesicht vor der Öffentlichkeit hinter dem immer mitgeführten Fächer zu verbergen. Angesichts dieser Geste ist es schon fast eine Ironie der Geschichte, dass die Kaiserin Jahrzehnte nach ihrer Ermordung (1898) erneut Karriere machte – diesmal als Leinwandfigur. Und das nun im vollen Rampenlicht der Öffentlichkeit, von keinem Fächer geschützt.
Der Professor und sein Lump - 1903: Theodor Mommsen bei der Arbeit
Es sieht vielleicht aus wie eine Pause, ist es aber sicherlich nicht: Theodor Mommsen sitzt an einem warmen Juni-Tag des Jahres 1903 im Garten seines Hauses in Berlin-Charlottenburg, in ein Buch vertieft. Es ist eine mühevolle Lektüre, weil der 85-Jährige kaum noch sehen kann. Mommsen ist zu diesem Zeitpunkt (rund fünf Monate vor seinem Tod) wohl der bekannteste deutsche Historiker. Im Jahr zuvor ist ihm als erstem Deutschen der Nobelpreis für Literatur verliehen worden – für seine mehrbändige "Römische Geschichte". Die Schwedische Akademie für Sprache würdigte nach eigenen Worten damit die stilistische Virtuosität des "größten lebenden Meisters der historischen Darstellung".
Das Schreiben hatte Theodor Mommsen früh als Redakteur der "Schleswig-Holsteinischen Zeitung" gelernt. Der studierte und promovierte Jurist entschied sich zwar schließlich für die Wissenschaft, aber er war und blieb ein politischer Kopf – wenn man so will: ein politischer Professor. Als solcher beteiligte er sich 1848 in Leipzig am revolutionären Geschehen (wofür er seinen Lehrstuhl verlor), später wurde er Mitglied des Reichstags und lieferte sich unter anderem bei der Frage der Sozialpolitik eine viel beachtete Auseinandersetzung mit Reichskanzler Bismarck. Als Historiker organisierte er von seinem Berliner Lehrstuhl aus maßgeblich die Erforschung der antiken Geschichte, vor allem von der Sammlung alter Inschriften profitiert die Wissenschaft bis heute.
Mommsen war zugleich einer der leidenschaftlichsten Historiker seiner Zeit: "Tu, was du willst", lehrte er in diesem Sinne seine Söhne, "doch tu's mit Leidenschaft!". Er selbst war berühmt-berüchtigt für seinen Witz und seinen Spott, ein hoch sensibler und verletzlicher Egozentriker. Wenn er auftrat, war es also nie langweilig, und manchmal trieb ihn die reine Lust zur Provokation: Als er einst in der Vatikanischen Bibliothek in Rom weilte, betrat der damalige Hausherr Papst Leo XIII. den Lesesaal, woraufhin sich alle Anwesenden pflichtschuldig zur Begrüßung erhoben. Nur Professor Mommsen blieb sitzen und ignorierte ihn geflissentlich – was selbstverständlich zum Eklat führte und ein gefundenes Fressen für die italienische und deutsche Presse war.
Was fehlt? Ach ja, der Lump. So hieß nämlich der Hund zu Mommsen Füßen.
Die Germanen kommen! 1909: In Detmold wird ein historischer Sieg gefeiert
Ob sich diese Männer wirklich freiwillig aussuchen konnten, wie sie sich verkleiden? Wir dürfen vermuten, dass bei diesem historischen Spektakel alle gerne als "Germanen" gegangen wären; die schauen zwar ziemlich grimmig drein, spielen aber die Sieger: Dieser Festumzug im Jahr 1909 soll an die "Schlacht im Teutoburger Wald" erinnern, in der 1.900 Jahre zuvor die Germanen die Römer besiegten. Deshalb treiben bei dieser festlichen Maskerade die bewaffneten "Germanen" die gefangenen "Römer" (samt den kümmerlichen Resten ihrer Ausrüstung) über das harte Kopfsteinpflaster.
Dass dieser Festumzug durch das ostwestfälische Provinzstädtchen Detmold führt, liegt an dem nahen Hermannsdenkmal, das als nationale Erinnerungsstätte dient: Im Jahr 9 n. Chr. lockten germanische Stämme unter Führung des legendären Arminius die riesige römische Streitmacht des unglücklichen Feldherrn Varus erfolgreich in einen Hinterhalt. Diese Schlacht wurde im kollektiven Gedächtnis der Deutschen schließlich zum Gründungsakt deutscher Freiheit stilisiert: Hier habe sich das unbeugsame und freiheitsliebende Germanien gegen die Besatzer erhoben und gesiegt. Dass es den Stämmen und ihren Führern an jeglicher Vorstellung von einem wie auch immer gearteten "Germanien" fehlte und von diesem Ereignis keineswegs ein direkter Weg in die neuere deutsche Nationalgeschichte führt – das alles war der Nachwelt ziemlich egal.
Auch die Germanenfreunde in Detmold sind von historischen Zweifeln völlig frei. 900 von ihnen haben sich in vermeintlich historische Kostüme gewandet, 200 Pferde und Zugtiere sind mit von der Partie. "Festlich geschmückte Frauen", so heißt es in der Festzeitschrift, "bringen den Kriegern in irdenen Töpfen und Hörner Met entgegen – und noch bis in die Nacht hinein feiert ein stolzes Ostwestfalen den Sieg über das römische Weltreich. Der historische Ort dieser Schlacht wurde übrigens erst fast 100 Jahre später gefunden: Er liegt vermutlich gar nicht im Teutoburger Wald, sondern nahe dem Flecken Kalkriese bei Osnabrück – im Wiehengebirge.
Randale an den Brauseflaschen - 1958: Der Berliner Sportpalast erleidet ein Bill Haley-Konzert.
Und das soll Kunst sein? Nein, das ist sie nicht. Was die Herren da so offensichtlich betroffen bestaunen, sind die Folgen eines – na ja – Konzertes im Berliner Sportpalast. Am Tag zuvor, dem 26. Oktober 1958, war hier der Auftritt des Rock-'n'-Roll-Musikers Bill Haley geplant. Doch der Abend ging nicht als ein Highlight der Musik in die bundesrepublikanische Geschichte ein, sondern als ein besonders erschreckendes Beispiel für das Auftreten der sogenannten "Halbstarken".
Diese Jugendlichen machten schon seit Mitte der 1950er Jahre die Adenauer-Republik unsicher. Ihre Musik war der aus den USA herüberkommende Rock ‘n‘ Roll (für ihre Eltern war das zu dieser Zeit schlicht "Negermusik"), ihre Vorbilder etwa der jugendliche und aufsässige Horst Buchholz im Film "Die Halbstarken" (1956), ihre Kleidung Jeans, karierte Hemden und Lederjacken, und ihr immer wieder gern gepflegter Zeitvertreib die Randale: Oft genug wurden bei den bald legendären Krawallen das Mobiliar von Kino- und Konzertsälen zerlegt.
Auch im Berliner Sportpalast kommt es an diesem 26. Oktober 1958 also so, wie es verunsicherte Betrachter befürchtet hatten: Schon lange vor Konzertbeginn stürmen mehrere hundert Jugendliche, die keine Karte mehr bekommen hatten, kurzerhand das Gebäude. Ausgerüstet mit Hupen, Knallfröschen, Sirenen und sogar Schreckschusspistolen stürzen sie sich auf die ersten Reihen, um dann gemeinsam mit dem Rest des Saals die Vorgruppe – immerhin der bereits bekannte Kurt Edelhagen mit seiner Bigband – niederzubrüllen und mit Holzlatten bewaffnet zu verjagen.
Das Idol Bill Haley konnte daraufhin nur kurz auftreten, brach aber seine Darbietung rasch wieder ab. Im Saal kommt allerdings jetzt erst recht "Stimmung" auf: Die Jugendlichen stürmen die Bühne, führen ihre "Veitstänze" auf, Stühle fliegen, Mikrophone und Verstärker werden demoliert und Scheinwerfer mit (so heißt es in der Presse) "Brauseflaschen" beworfen. Und schließlich landet sogar der unschuldige Flügel demoliert auf dem Rücken. 20 Besucher und fünf Polizisten werden verletzt, 18 Jugendliche festgenommen. Nach Feststellung der Personalien werden allerdings bis auf zwei alle wieder freigelassen – und ihren Eltern übergeben...
Seine Majestät der Osterhase - 1912: Deutsche Matrosen vor Korfu.
Gerade in der deutschen Geschichte wird das Humorpotenzial von Monarchien gerne unterschätzt. Dass man indes mit gekrönten Häuptern zuweilen seine Freude haben konnte, und dass wir Nachgeborenen uns noch heute köstlich unterhalten fühlen können, zeigt dieses Foto. Es wurde am 2. April 1912 an Bord der Yacht "Hohenzollern" aufgenommen. Unter der wärmenden Mittelmeersonne – Schiff und Mannschaft befinden sich nahe der Insel Korfu – frönen die Matrosen fern der Heimat einem vertrauten Brauch: Mit zuweilen kindlichem Eifer suchen sie nach Ostereiern, die irgendwo an Bord versteckt wurden. Wo mögen sie nur sein? Nur einer weiß es ganz bestimmt: der deutsche Kaiser Wilhelm II., denn der hat für die Gaudi höchst selbst die Ostereier versteckt.
Die gute Laune an Bord ist sinnbildlich für die Freude, die der Kaiser mit seiner Yacht, seiner Mannschaft und der ganzen Seefahrt hat: Alles Maritime liegt dem Herrscher seit früher Kindheit am Herzen, und seit seiner Thronbesteigung 1888 kann er Schritt für Schritt seine Leidenschaft in große Politik umsetzen und so seine schließlich durchaus imposante Flotte aufbauen – was zu erheblichen Verstimmungen mit der traditionellen Seemacht Großbritannien führen sollte. Aber da Wilhelm ja mit aller Kraft nach Weltgeltung strebt, nimmt er diesen wie andere internationale Konflikte in Kauf – in ihrer Summe sollten sie bekanntermaßen in den Ersten Weltkrieg münden, der Millionen Menschen den Tod und den deutschen Kaiser immerhin die Krone kosten wird.
Doch von solch finsterer Zukunft sind kaiserlicher Osterhase und vergnügte Matrosen in diesem Frühjahr 1912 noch weit entfernt. Und auf Korfu wartet schließlich das traumhaft gelegene Schlösschen "Achilleion", das sich einst Kaiserin Sissi von Österreich erbauen ließ und das Wilhelm vor fünf Jahren gekauft hat. Im fernen Deutschland werden die vielen Reisen des Monarchen derweil mit Skepsis betrachtet, immerhin kommt es ja auch vor, dass der Herrscher mehr als die Hälfte des Jahres auf Reisen ist. Zuweilen wird er deshalb als "Reisekaiser" verspottet, und hinter vorgehaltener Hand wird das feierliche "Heil Dir im Siegerkranz" ein wenig abgewandelt – dann singen Spötter "Heil Dir im Sonderzug"…
Gitarren, Lauten, roter Tee - 1929: Schüler singen hoch über dem Rhein
Wer bei diesem Bild an muffige Schlafsäle und roten Tee aus Blechkannen denkt, hat fraglos selbst reiche Erfahrungen mit einem deutschen Mythos gemacht: den Jugendherbergen. In sie kehrte man (oft genug mit der Schulklasse) entweder unfreiwillig ein, oder man war als jugendlicher Wanderer regelrecht begeistert von ihnen, weil sie die ersten Herbergen waren, die die Eltern als Übernachtungsmöglichkeiten weit weg von Zuhause akzeptierten (oft traf übrigens beides zu). Auf diesem Foto scheint die Freude zu überwiegen: Es wurde im Sommer 1929 hoch über dem Rhein aufgenommen (der unten im Tal vorbeiströmt) und zeigt vier Schüler bei einem fröhlichen Lied.
Die Jungs haben (samt Gitarren und Lauten) den beschwerlichen Aufstieg zu den Überresten der Burg Stahleck geschafft, die hoch über dem Städtchen Bacharach liegt und einen herrlichen Blick über das Rheintal freigibt. Wie zahlreiche andere mittelalterliche Burgruinen auch ist Burg Stahleck restauriert und umgebaut worden, um hier eine Jugendherberge zu eröffnen. Diese Häuser sind damals schlicht der große Renner: bürgerlich geprägte Wandervögel, die Mitglieder der Arbeiterjugend und der zahllosen lebensreformerischen Strömungen treffen sich hier.
Den Anfang der deutschen Jugendherbergsbewegung machte vermutlich ein ziemlich heftiges Gewitter im Sauerland: Von diesem wurde nämlich während einer Wanderung im Sommer 1909 der Lehrer Richard Schirrmann mit einer Gruppe Schüler überrascht; nur mit knapper Not fanden sie schließlich eine schlichte Herberge für die Nacht. Schirrmann ersann anschließend die dann so erfolgreiche Idee eines landesweiten Netzes von Übernachtungsmöglichkeiten für wandernde Schüler.
Der Nationalsozialismus machte bekanntlich weder vor der Jugendbewegung noch vor den Jugendherbergen Halt: Das Jugendherbergswerk wurde gleichgeschaltet, jetzt zog die Hitler-Jugend in die Häuser ein, später oft genug die Wehrmacht, zuweilen – wie auch im Fall der Burg Stahleck – wurden sie Internierungslager für missliebige Jugendliche. Mit Glück gelang nach 1945 ein Neuanfang, zivile Schülergruppen eroberten sich die alten Orte der Jugendbewegung zurück. Heute schätzen übrigens immer mehr Familien die Jugendherbergen. Gesungen wird nicht mehr ganz so viel, aber den roten Tee gibt es immer noch …
Das geteilte Jungenklo - 1900: Deutschland achtet auf konfessionelle Feinheiten
Im Nachhinein kann man zuweilen den Eindruck haben, die Deutschen seien irgendwann im Laufe ihrer Geschichte schlicht verrückt geworden. Schauen wir auf dieses Foto, das wohl um 1900 entstand. Es befand sich in einer Schule im (wirklich!) rheinland-pfälzischen Oggersheim und leitete die Schüler getrennt auf das stille Örtchen. Da drängt sich doch die Frage auf, ob das damals so aufstrebende Deutsche Reich, die imposante Industrienation, dieses große und mächtige Land in der Mitte Europas nicht anderes zu tun hat, als katholische und protestantische Knaben dergestalt zu separieren? Nein, hatte es nicht. Und das zeigt ein spezifisch deutsches Problem.
Denn keine andere europäische Nation kann auf eine solch imposante Tradition der inneren religiösen Zerrissenheit verweisen wie Deutschland: Luthers Reformbemühungen mündeten bekanntlich in der Reformation und in deren Folge in der konfessionellen Zersplitterung des Landes. Fortan gab es für die Deutschen immer den Eigenen und den Anderen, den Katholiken und den Protestanten, den Freund und den Feind. Was anfangs ein politischer Spielball der mehr oder weniger mächtigen Landesherren war, was von Geistlichen und religiösen Eiferern durchs Land getragen wurde, grub sich schließlich tief in die deutsche Mentalität ein.
Im 19. Jahrhundert finden wir schließlich die deutsche Gesellschaft tief gespalten, da gab es katholische und evangelische Vereine, Zeitungen und Schulen (inklusive Schultoiletten), oft sogar konfessionell getrennte Stadtteile. Und welch ein Drama entstand zuweilen, wenn die Tochter einen „Falschen“ mit nach Hause brachte – jede „Mischehe“ war eine familiäre Blamage und eine potenzielle Katastrophe für das Seelenheil.
Im Alltag, in der Wirtschaft, in der Politik: Überall hinließ die tiefe konfessionelle Spaltung ihre Spuren, machte Kompromisse schwer, ließ Konflikte schnell prinzipiell werden – auch weil man es eben gewohnt war, dass es immer um die großen, die letzten Dinge ging. Und der Andere war immer nicht nur der Andere, sondern der Andersgläubige, womöglich gar der Ungläubige. Ihn glaubte man bestenfalls missionieren zu können, diskutieren konnte man mit ihm nicht: Der Himmel über Deutschland war und blieb bis weit ins 20. Jahrhundert geteilt. Deshalb gingen die katholischen und evangelischen Jungs getrennt aufs Klo. Nicht nur in Rheinland-Pfalz – Oggersheim war in diesem Sinne überall.