Biennale 2024: Ukraine-Krieg statt polnischer Patriotismus
11. Januar 2024Eigentlich sollten die patriotisch gesinnten Werke des polnischen Künstlers Ignacy Czwartos das Publikum der Biennale von Venedig 2024 erobern. Ende Oktober 2023 hatte der damalige polnische Kulturminister Piotr Glinski von der rechtskonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) beschlossen, dass die Ausstellung mit dem Titel "Die polnischen Übungen in der Tragik der Welt. Zwischen Deutschland und Russland" im polnischen Pavillon gezeigt werden solle.
Die Entscheidung sorgte für heftige Kontroversen in Polen. Eines der Gemälde heißt "Nord Stream 2" und zeigt die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und den russischen Präsidenten Wladimir Putin, die mit einem flammenden Andreaskreuz verbunden sind. Die Flammen bilden ein Hakenkreuz. Auf anderen Bildern sieht man unter anderem Partisanen, die im Nachkriegspolen gegen die regierenden Kommunisten kämpften.
Der gekreuzigte Christus symbolisiert das polnische Opfertum im Kampf gegen die totalitären Systeme des Nationalsozialismus und des Kommunismus, ganz im Sinne der Geschichtspolitik der PiS-Regierung, die das polnische Leid und Heldentum in den Vordergrund stellte.
Kritik am national gesinnten Werk von Czwartos
Kritiker wiesen darauf hin, dass das Projekt mit dem diesjährigen Motto der Biennale "Überall Ausländer" kaum im Einklang stehe. Die Tatsache, dass in Polen derzeit Millionen neue Bürger lebten, darunter belarussische und ukrainische Künstler, sei ignoriert worden. "Der Vorschlag von Czwartos berücksichtigt weder den aktuellen Zeitgeist noch den aktuellen Zustand der Welt noch die Situation der Kunst in Polen und in der Welt", sagt die polnische Kunstkuratorin Joanna Warsza der DW.
Warsza, die derzeit als Programmdirektorin von CuratorLab an der Konstfack-Universität in Stockholm tätig ist und Kuratorin des polnischen Biennale-Pavillons 2022 war, saß auch in der Jury, die über den diesjährigen polnischen Pavillon entscheiden sollte. Zusammen mit zwei anderen Jurymitgliedern stimmte sie gegen das von der tragischen polnischen Geschichte geprägte Projekt und votierte stattdessen für die Videoperformance "Repeat after me" des ukrainischen Künstlerkollektivs Open Group. "Sie steht für die Werte, die wir verteidigen wollen: Offenheit, Toleranz, Fürsorge, Empathie, Widerstand gegen bewaffnete Konflikte und Reflexion über das Leben in einer Welt nach der Migration", sagt Warsza.
Ukrainische Performance im polnischen Pavillon
Auch der neue Kulturminister Bartlomiej Sienkiewicz von der proeuropäischen Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO) fand die Performance viel geeigneter für die Biennale und beschloss, sie nach Venedig zu schicken. Ende Dezember, kurz nach seinem Amtsantritt, machte er die Entscheidung seines Vorgängers rückgängig.
Die Bürgerplattform bildet seit Mitte Dezember 2023 zusammen mit zwei anderen Parteien die neue polnische Regierung mit Premierminister Donald Tusk, nachdem die PiS in den Parlamentswahlen zuvor abgewählt worden war.
Die Klänge des Krieges
In der Video-Performance der ukrainischen Künstler sieht man Flüchtlinge aus der Ostukraine, die in einer Unterkunft in der Nähe von Lemberg (Lwiw) aufgezeichnet wurden. Sie erzählen über ihre Erfahrungen und ahmen Klänge des Krieges nach: Alarmsirenen, Artilleriebeschuss, Bomben, Raketen, Panzer. Der Zuschauer soll die Klänge wiederholen.
Die Kuratorin der Performance, Marta Czyz, hält sie aber für unwiederholbar. "Die Open Group, die uns zum 'Karaoke' auffordert, weiß, dass wir diese Klänge nicht nachempfinden, nicht erleben werden. Uns wird nur ein Schauer über den Rücken laufen, wenn wir den Zeugen zuhören und dabei in ihre ruhigen Gesichter schauen", schreibt Czyz im Webportal miejmiejsce.com.
Anders als das ursprünglich geplante Projekt von Ignacy Czwartos scheint diese Performance auch mit dem Motto der Biennale 2024 "Ausländer Überall" im Einklang zu sein. Adriano Pedrosa, der diesjährige Generaldirektor der Biennale und Chef des Museu de Arte de São Paulo, wolle auf die Künstler fokussieren, die selbst Ausländer oder Flüchtlinge seien, heißt es auf der Webseite der Biennale.
Ein Minister für schwierige Aufgaben
Ein Wechsel der Ausstellung im polnischen Pavillon war eine der ersten Entscheidungen des neuen Kulturministers Bartlomiej Sienkiewicz, doch mit Sicherheit nicht seine schwerste.
Die härteste Nuss, die er bislang knacken musste, war die Lage in den polnischen öffentlich-rechtlichen Medien, die in den vergangen acht Jahren zum Propagandainstrument der Regierung geworden waren. Trotz der Proteste der politischen Rechten entließ er die bisherigen Chefs und besetzte ihre Posten mit Personen, die die journalistische Unabhängigkeit garantieren sollen. Als der PiS-nahe Präsident Andrzej Duda ein Gesetz stoppte, das den Medien die Finanzierung sichern sollte, löste der Kulturminister sie kurzerhand auf.
Kultur ist für Bartlomiej Sienkiewicz ein neues Feld, doch schnelles Handeln und hartes Durchgreifen sind ihm nicht fremd. Der Osteuropaexperte und gebildete Historiker war 2013 bis 2014 Innenminister mit Verantwortung für alle Geheimdienste in der damaligen Regierung von Donald Tusk. Von 1990 bis 2002 diente er als hoher Beamter des früheren polnischen Amts für Staatsschutz (UOP).
Wandel in der Kulturpolitik erwartet
Seine ersten Entscheidungen geben vielen Kulturschaffenden in Polen Hoffnung, lassen aber auch die Erwartungen hochsteigen. "Ich rechne damit, dass es in naher Zukunft Auswahlverfahren für Direktorenstellen in verschiedenen öffentlichen Einrichtungen geben wird", sagt Joanna Warsza.
Die Kuratorin, die derzeit in Berlin lebt, spricht von "gigantischen Verlusten" für die polnische Kultur unter der PiS. Auf die Frage, ob es in dieser Zeit vielleicht doch etwas Positives gegeben habe, sagt sie: "Vielleicht hat diese Situation teilweise die Künstlergemeinschaft geeint, aber die Müdigkeit ist enorm." Auch sie hofft auf bessere Zeiten für die polnische Kultur.