BGH stärkt Recht auf selbstbestimmten Tod
25. Juni 2010Wer entscheidet über den Tod eines unheilbar kranken Menschen: Gott, das Schicksal, Ärzte, ein Pflegeheim oder der Kranke selbst? In dieser Hierarchie sind die Betroffenen nun weit nach vorne gerückt. Der Bundesgerichtshof (BGH) fällte am Freitag (25.06.2010) ein lange erwartetes Grundsatzurteil. Es betont das Selbstbestimmungsrecht auch eines kranken oder sterbenden Menschen und fordert, dass der Wille des Betroffenen von Ärzten und Pflegern unbedingt beachtet werden muss.
Ärzte dürfen nach dem Urteil der Karlsruher Richter dann lebensverlängernde Maßnahmen abbrechen, wenn der unmittelbare Sterbevorgang noch nicht begonnen hat. Weiter erklärte das Gericht, dass es nicht darauf ankomme, ob diese Maßnahmen durch aktives Handeln abgebrochen werden, beispielsweise wenn ein Ernährungsschlauch entfernt wird. Auch bei bewusstlosen Patienten sei allein deren mutmaßlicher Wille entscheidend. Demnach macht sich niemand strafbar, wenn er den erklärten Wunsch eines Menschen nach einem würdigen Tod beachtet und deshalb lebensverlängernde Behandlungen wie eine künstliche Ernährung abbricht (Az. 2 StR 454/09).
Anwalt Putz frei gesprochen
Der BGH sprach den auf Medizinrecht spezialisierten Münchener Rechtsanwalt Wolfgang Putz vom Vorwurf des versuchten Totschlags frei. Putz hatte seiner Mandantin Elke Gloor geraten, den Ernährungsschlauch durchzuschneiden, über den ihre Mutter versorgt wurde. Die Patientin lag bereits seit fünf Jahren im Wachkoma. Die Tochter folgte dem Rat ihres Anwalts und durchtrennte den Schlauch der Magensonde. Die Heimleitung stoppte die Maßnahme und setzte die künstliche Ernährung fort. Kurze Zeit später starb die Patientin eines natürlichen Todes.
Die Patientin hatte ihrer Tochter, bevor sie ins Koma fiel, gesagt, dass sie in einem solchen Fall nicht künstlich ernährt werden wolle. Das Pflegeheim weigerte sich jedoch, die Ernährung zu beenden.
Das Heim habe "kein Recht, sich über das Selbstbestimmungsrecht des Patienten hinwegzusetzen", sagte die Vorsitzende Richterin Ruth Rissing-van Saan in der Urteilsbegründung. Bei der Frage, ob lebensverlängernde Maßnahmen abgebrochen werden dürfen, komme es nicht darauf an, "ob die Grunderkrankung einen irreversibel tödlichen Verlauf genommen hat". Entscheidend sei allein der Wille des Patienten. Hierbei zählten nicht nur schriftliche Patientenverfügungen, sondern auch mündlich geäußerte Wünsche.
Urteil weitgehend positiv bewertet
Juristen, Mediziner und die Evangelische Kirche bewerteten das Urteil weitgehend positiv. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) erklärte, das Urteil schaffe Rechtssicherheit im Spannungsfeld zwischen zulässiger passiver und verbotener aktiver Sterbehilfe. "Der freiverantwortlich gefasste Wille des Menschen muss in allen Lebenslagen beachtet werden. Es gibt keine Zwangsbehandlung gegen den Willen des Menschen", so die FDP-Politikerin.
Der Marburger Bund warnte vor einem falschen Verständnis des Urteils. "Der Freispruch für den Rechtsanwalt ist kein Freibrief für eigenmächtiges Vorgehen bei der Entscheidung über die Fortsetzung von lebenserhaltenden Maßnahmen", sagte der Vorsitzende Rudolf Henke. Aus dem Zustand des Wachkomas dürfe nicht abgeleitet werden, dass diese Patienten automatisch nicht mehr leben wollten.
EKD: Leben nicht um jeden Preis verlängern
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) begrüßte, dass das Recht des Patienten auf die Umsetzung seines Willens gestärkt werde. Die EKD erklärte, nach christlicher Ethik gebe es keine "Verpflichtung des Menschen zur Lebensverlängerung um jeden Preis". Außerdem erklärte die EKD: "Einen Menschen sterben lassen ist bei vorher verfügtem Patientenwillen nicht nur gerechtfertigt, sondern geboten." Die Deutsche Hospiz-Stiftung warnte hingegen vor Missbrauch, wenn zur Ermittlung des Patientenwillens ein "beiläufiges Vier-Augen-Gespräch" ausreiche.
In erster Instanz hatte das Landgericht Fulda den Anwalt Putz wegen aktiver Sterbehilfe und versuchten Totschlags zu einer Bewährungsstrafe von neun Monaten und einer Geldstrafe von 20.000 Euro verurteilt. In der Revisionsverhandlung vor dem BGH hatten sowohl die Verteidigung als auch die Bundesanwaltschaft einen Freispruch gefordert.
Autorin: Naima El Moussaoui (dpa, afp, ap)
Redaktion: ml