Beten für die Menschen in Israel und Gaza
5. Dezember 2023Vögel zwitschern in den hohen Eukalyptusbäumen. Lachen ist zu hören, Touristen gehen umher und genießen die frische Morgenluft am Wasser. Einzelne Reisegruppen aus Tansania und den Philippinen stehen am Jordanufer und tauchen im kühlen Wasser unter wie an jedem sonnigen Tag: Baden ist verboten, Taufen aber erlaubt.
Mit unserer deutschen Reisegruppe sind wir früh morgens nach Yardenit am Südufer des See Genezareth gefahren. Das ist die Stelle, an der Christen sich gern taufen lassen und für zehn Euro weiße Taufgewänder kaufen können. Am Tag vorher standen die Orte am See auf dem Programm, an denen Jesus nach den Erzählungen im Neuen Testament gewirkt hat: der Berg der Seligpreisungen, die gut erhaltene Ausgrabungsstätte Kapernaum und die Benediktinerkirche Tabgha mit einem antiken Mosaik, das an die Speisung der 5000 erinnert.
„Alles reines Touristen-Gebiet, das hat mit dem echten Israel nichts zu tun“, sagte mir einmal ein israelischer Reisebürobetreiber. Wir jedenfalls genießen diese Oase. Alle schauen entspannt auf das grüne, schattige Jordanufer, als unser Guide die ersten Nachrichten aufs Handy bekommt. Es ist Samstag, der 7. Oktober, um 8.30 Uhr. Die Realität hatte uns wie alle anderen eingeholt.
Terroristen der Hamas haben den Zaun zum Gazastreifen durchbrochen und sind zu Fuß, auf Pick-ups und Mopeds in jüdische Siedlungen und Kibbuzim eingedrungen. Sie haben in Häusern und auf den Straßen wild um sich geschossen. Sie haben Frauen, Männer, Kinder und Alte entführt und in den Gazastreifen verschleppt. An den jungen Besuchern des Ravedance-Festivals in der Nähe des Gazastreifens haben die Hamas-Terroristen ein Massaker angerichtet. Erst in den Tagen und Nächten danach wurde im Liveblog der Nachrichtenredaktionen das Ausmaß der Gräuel und Gewalt deutlich, das unzählige Menschen und Familien in Schrecken und Trauer stürzte.
Wir Touristen am Jordanufer waren geschockt, wie alle in Israel und zu Hause. Unsere 21-köpfige Reisegruppe konnte sich sicher weiterbewegen bis nach Jerusalem. Die Raketen und die Gewalt waren 200 Kilometer entfernt. Aber das Schicksal so vieler Unschuldiger war uns ganz nahe. Zugleich wussten wir, dass wir als Touristen im Land jetzt nichts zu suchen haben. Alle Straßen waren schlagartig leer, Geschäfte geschlossen. Tausende Reservisten wurden eingezogen. Die palästinensischen Gebiete wie Bethlehem wurden abgeriegelt.
Unser palästinensischer Reiseführer, ein Christ aus Beit Jala bei Bethlehem, hatte einen wachen Blick für unsere Sicherheit. Er engagiert sich seit jeher in der palästinensischen Friedensbewegung. Sein Ziel ist ein gerechtes Nebeneinander. Annäherungen zwischen Israelis und Palästinensern hat es immer wieder gegeben. Immer wurden sie erfolgreich torpediert von Extremisten auf beiden Seiten.
In der jetzigen Eskalation ist für vermittelnde Töne kein Raum. Der 7. Oktober ist das israelische 9/11. So wie damals in den USA herrschen unfassbare Trauer und blanke Wut. Fast alle wollen Vergeltung und Abschreckung, auch wenn der humanitäre Preis für die Zivilbevölkerung in Gaza den meisten bewusst ist. Die Zahl der Toten und Verletzten geht auch im Gazastreifen in die Tausende und steigt von Tag zu Tag. Hunderttausende Menschen sind dort obdachlos.
Wir, die Touristen, kamen unversehrt mit einem der acht Lufthansa-Flüge zurück nach Deutschland. Das Einzige, das wir als Außenstehende tun konnten und können: Augen und Ohren aufhalten für Details. Zum Beispiel für das Auguste-Viktoria-Krankenhaus in Ost-Jerusalem. Dort zeigt sich, was das Einfrieren der deutschen und europäischen Entwicklungshilfe für Palästinenser bedeuten würde. Das vom Lutherischen Weltbund betriebene Krankenhaus hat die einzige onkologische Station für die gesamte Westbank und den Gazastreifen. Es ist auf Spenden und Mittel aus der Entwicklungszusammenarbeit angewiesen. Fehlt das Geld, bekommen Krebskranke aus dem Westjordanland keine Therapie.
Distanz halten zu können zum Krieg, ist ein Luxus derer, die nicht unmittelbar betroffen sind. Das muss nicht heißen, dass ich mich zurücklehne und die Augen verschließe. Es kann bedeuten, umso stärker die Menschen auf beiden Seiten im Blick zu haben, zu beten zu einem Gott, der sich nicht vom Krieg vertreiben lässt.
Ich habe ein Gebet gefunden, das ich zurzeit spreche: „Gott, ich bitte dich für alle, die in Israel und Palästina unter Terror und Angriffen leiden. Ich bete für die Verschleppten, die Verletzten, die Trauernden. Für die, die nicht wissen, was mit ihren Liebsten ist. Für die, die fliehen müssen. Nimm dich ihrer an! Ich bete für alle, die auf diplomatischer Ebene nach einem Weg suchen, um das Blutvergießen zu beenden. Steh ihnen bei! Dein Friede, Gott, ist größer als Gewalt und Hass. Gib Frieden!“
Ralph Frieling
Ralph Frieling (Jahrgang 1966) ist Pfarrer der Ev. Kirchengemeinde Weslarn in Westfalen. Nach dem Abitur machte er ein Volontariat in Nes Ammim (Israel) und studierte evangelische Theologie in Heidelberg und Melbourne (Australien). Sein Vikariat machte er in Berlin und Brandenburg; dort hat er auch angefangen, regelmäßig Radiosendungen zu machen. Anschließend war er vier Jahre lang Studienleiter in der Evangelischen Akademie Iserlohn. 2004 wechselte er als Pfarrer in die Gemeinde, zuerst im Kirchenkreis Hamm, dann ab 2008 in den Kirchenkreis Soest.
Dieser Beitrag wird redaktionell von den christlichen Kirchen verantwortet.