Erschütterndes Filmdebüt "Freistatt"
25. Juni 2015Dieser Film ist eine Wucht. Aus zweierlei Gründen. Zum einen, weil er ein düsteres und lange verdrängtes Kapitel aus der jüngeren deutschen Zeitgeschichte behandelt. Zum anderen, weil es das ungemein eindrucksvolle Kinodebüt eines jungen Filmregisseurs ist, von dem in Zukunft sicher noch zu hören sein wird.
"Freistatt" ist der erste lange Spielfilm von Marc Brummund. Der ist allerdings kein Unbekannter. Immerhin wurde er schon auf Festivals in Cannes und Lissabon, in Riga und Kiew ausgezeichnet - um nur die internationalen Erfolge aufzuzählen. Und bereits 2007 wurde einer seiner Filme für einen Oscar nominiert. Und doch dürften Brummund in seiner Heimat nur Eingeweihte kennen. Kein Wunder: Die Preise und Ehrungen bekam der Regisseur ausschließlich für Werbe- und Kurzfilme.
Begeistertes Publikum in Saarbrücken
Dass sein erster Spielfilm nun Aufsehen erregt, damit war also zu rechnen. Bei seiner Premiere beim "Max Ophüls Preis" in Saarbrücken begeisterte er im Januar bereits die Zuschauer und eroberte den Publikumspreis. Völlig zu Recht. Denn der Film schafft etwas, das nicht vielen Debüts gelingt. Er erzählt eine Geschichte, die packend und ungeheuer ergreifend ist - fernab jeglicher Beliebig- und Harmlosigkeit, die so manche erste Filmversuche kennzeichnet. Und: "Freistatt" ist von einer ungeheuren dramaturgischen Dichte, er ist perfekt inszeniert, handwerklich vollendet, wirkt in kaum einer Szene wie ein Debütfilm.
Worum geht es? In den 1950er und 1960er Jahren wurden in der Bundesrepublik eine halbe Millionen Kinder und Jugendliche in kirchlichen und staatlichen Heimen seelisch und körperlich misshandelt. Diese Tatsache ist seit einigen Jahren bekannt. Politik und Wissenschaft haben sich dem Thema zugewandt. Vor allem die sexuellen Übergriffe in kirchlichen und reformpädagogischen Einrichtungen haben das Thema in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gehoben.
Systematisch eingesetzte Quälerei
Und doch dürfte das, was Brummund in "Freistatt" erzählt, verblüffen. Denn die Brutalität und systematisch eingesetzte Disziplinierung der Kinder und Jugendlichen erscheinen heute kaum noch vorstellbar. Und auch die Tatsache, dass es vereinzelt noch bis Mitte der 70er Jahre zu solch entsetzlichen Praktiken in West-Deutschland gekommen ist, erschreckt noch im Nachhinein. Schließlich war jene Zeit vom Umbruchjahr 1968 und seinen Folgen geprägt.
"Uns hat diese unerhörte Gleichzeitigkeit fasziniert", erzählt Marc Brummund: "Auf der einen Seite eine Gesellschaft, die zwischen Rock'n'Roll und Studentenrevolte schier unbändig nach Freiheit zu streben schien, auf der anderen Seite die Fortschreibung eines institutionalisierten und in seiner Dimension kaum vorstellbaren Missbrauchs in Erziehungsheimen und Institutionen."
Brummund erzählt in "Freistatt" die Erlebnisse des 14-jährigen Wolfgang (überragend: Louis Hofmann), der von seiner überforderten Mutter und seinem Stiefvater in die Fürsorgeanstalt "Freistatt" abgeschoben wird. Die befindet sich in der tiefsten Provinz in Norddeutschland, in einer Region, die dünn besiedelt und von großen Waldgebieten und Moorlandschaften geprägt ist.
Kinder und Jugendliche ausgebeutet
In dieses Moor müssen die Jugendlichen tagtäglich mit einer mittelalterlich wirkenden Draisine einfahren, um Torf zu stechen. Den verkauft die Heimleitung an örtliche Bauern. Ein Knochenjob, an dem viele Heimkinder zerbrechen. Und auch der Alltag der Jugendlichen außerhalb der Arbeit im Moor gleicht eher dem eines Zuchthauses als einer pädagogischen Heimstätte für Heranwachsende.
Hat sich Marc Brummund bei dem Thema Kinokonventionen angepasst? Hat er der Dramatik der Story zu viel Gewicht eingeräumt? Liest man die Aufzeichnungen von Wolfgang Rosenkötter, der all das selbst erlebt hat und dem Regisseur beim Drehbuch Rede und Antwort stand, muss die Antwort "Nein" heißen. Empfangen habe man ihn damals mit den Worten: "Du wirst arbeiten bis zum Umfallen und jeglichen Gedanken an Flucht kannst Du Dir aus dem Kopf schlagen", hat Rosenkötter zu Protokoll gegeben. "Bete und Arbeite", habe es geheißen, dann käme man schon zu Recht. Dies habe sich aber als Trugschluss erwiesen: Für ihn sei Freistatt der "Vorhof der Hölle" gewesen, sagt Rosenkötter.
Erste Hinweise von Ulrike Meinhof
Der Alltag und die Praxis in den bundesdeutschen Erziehungsanstalten der Nachkriegszeit waren nicht völlig unbekannt. Die spätere Terroristin Ulrike Meinhof hat sich in ihrer Zeit als Journalistin intensiv mit dem Thema beschäftigt, den Film "Bambule" gedreht. Für Meinhof waren die Zustände in den BRD-Heimen damals ein Auslöser für ihre spätere Radikalisierung. "Heimerziehung, das ist der Büttel des Systems, der Rohrstock, mit dem den proletarischen Jugendlichen eingebläut wird, dass es keinen Zweck hat, etwas anders zu wollen, als lebenslänglich am Fließband zu stehen, an untergeordneter Stelle zu arbeiten, Befehlsempfänger zu sein und zu bleiben, das Maul zu halten", so Meinhof damals. Dabei sei die "Gewaltanwendung eher die Regel als die Ausnahme gewesen."
Bei all den Kenntnissen, die man heute von den Zuständen in den Erziehungsheimen der Bundesrepublik hat - Marc Brummund ist es hoch anzurechnen, dass er das Sujet nicht zu einem pädagogischen Themenfilm mit erhobenem Zeigefinger hat werden lassen. Der Regisseur spricht auch ganz offen über seine filmischen Vorbilder wie den Hollywood-Film "Flucht in Ketten" oder François Truffauts Debüt "Sie küßten und sie schlugen ihn". Man sieht "Freistatt" diese Vorbilder an. Doch Marc Brummund ist das cineastische Kunststück gelungen, sich an diesen Vorbildern zu orientieren und doch eine eigenständige Handschrift zu entwickeln. Es dürfte kaum ein anderes deutsches Filmdebüt in diesem Jahr geben, das an "Freistatt" heranreicht.
Marc Brummunds Film "Freistatt" startet nach mehreren Festivaleinsätzen (Cannes, Shanghai) im In- und Ausland an diesem Donnerstag in den deutschen Kinos. Außerdem ist er demnächst auf Festivals in Armenien, Italien, Belgien, Tschechien und in Frankreich zu sehen.