Der Weltdatenknubbel
18. Mai 2012Wer das Internet besuchen möchte, muss nach Frankfurt-Fechenheim. Hanauer Landstraße, kurz hinter der Autobahn 661. Eines dieser etwas öden Gewerbegebiete mit Billigwaschstraßen, Babymarkt-Discounter und der Filiale einer Fast-Food-Kette aus Kentucky. Was dessen Kunden kaum ahnen dürften: Über den fensterlosen Flachdachbau gleich nebenan kommunizieren in diesem Augenblick Abermillionen Menschen von Lateinamerika bis Nordkorea. Denn hier sitzt der De-Cix: der German Commercial Internet Exchange. In dem Gebäude auf dem Campus des Rechenzentrendienstleisters Interxion ist der inzwischen nach Datendurchsatz größte Internetknoten der Welt beheimatet. Wer gerade eine E-Mail bekommen oder geschrieben hat, dessen Daten sind mit großer Wahrscheinlichkeit eben durch das Frankfurter Ostend gerauscht. Durch ein Hochsicherheitsgebiet.
Hinter der A 661 knubbeln sich die Datenautobahnen dieser Welt
Arnold Nipper legt seinen Ausweis in die Schublade, der Sicherheitsmann hinter schwerem Glas händigt ihm einen Hausausweis aus. Draußen vor der Tür brummt die Autobahn 661, drinnen, hinter der schweren Metalltür am Ende des langen Ganges, ist bereits das Dröhnen der weltgrößten Datenautobahn zu hören. Dorthin ist Arnold Nipper nun unterwegs. Auch der Technische Leiter des Internetknotens muss sich hier den Sicherheitsmaßnahmen unterwerfen und die so genannte Personenvereinzelungsanlage überwinden.
Dahinter wird es laut. Und kalt. Es geht über lange Gänge mit Metallschiebewänden - darüber das Getöse einer gewaltigen Klimaanlage. Der Sicherheitsmann öffnet eine Schiebetür. Ein Raum mit vielen grauen Kästen. Das Ganze erinnert an den geräumigen Umkleidebereich eines Schwimmbads voller Metallspinde. Nur, dass in ihnen gelbe und grüne Dioden eifrig blinken. Hier stehen wir also vor dem Allerheiligsten? "Ja," sagt Arnold Nipper, "hier stehen wir vor dem Cage 5A."
Am Anfang war ein Schuhkarton
Ein Rechenzentrum so groß wie eine Schwimmbad-Umkleidekabine. Daran hätte Arnold Nipper 1995 nicht im Traum gedacht. Damals baute der Internetpionier den ersten deutschen Internetknoten mit auf. "Das Gerät war damals schuhkartongroß", verdeutlicht Nipper den Wandel. Die Kiste stand eher beiläufig im Büro eines Kollegen herum. Zehn Steckplätze waren daran, da konnte man sich anschließen, das war's. Doch dieser Schuhkarton war ein Meilenstein für die Entwicklung des Internets in Deutschland. Denn noch war das Netz eine streng hierarchische Angelegenheit: Schickte man Daten von einem zum anderen Rechner in Deutschland, musste das Datenpaket erst einmal über den Atlantik in die USA, zum riesigen Backbone der National Science Foundation.
Nipper arbeitete damals bei einem der frühen großen Internetprovider in Deutschland. Er setzte sich mit Kollegen von der Konkurrenz zusammen, eigentlich erbitterten Wettbewerbern. "Aber wir haben gesagt: 'okay, lasst uns auch hier einen Internetknotenpunkt aufbauen, dann brauchen wir unsere Daten nicht zweimal über den Atlantik schicken'", erinnert sich Nipper an einen der entscheidenden Schritte zur Privatisierung des Netzes. Damit ersparte man sich den damals noch immens teuren internationalen Datenverkehr. Zugleich erhöhte sich die so genannte Performanz des Datenverkehrs, weil die Daten über kürzere Strecken schneller fließen konnten.
17 Jahre später jagen mehr als 350 Internetanbieter aus 40 Ländern ihre Daten durch den Frankfurter Knoten. Darunter sind Branchengiganten wie Google, Microsoft oder Arcor. Der De-Cix ist zum dicksten Knubbel in einer inzwischen weit verzweigten Topologie geworden. In Europa waren lange Zeit die Austauschpunkte in Amsterdam und London die Großen der Branche - jetzt hat ihnen Frankfurt am Main deutlich den Rang abgelaufen. Warum der Frankfurter Knoten so schnell wächst, gibt selbst Nipper noch Rätsel auf. Offenbar zahlt sich die geografische Lage aus. Denn hier docken Kunden aus den Wachstumsmärkten in Osteuropa und Asien an. Sogar Nordkorea ist angeschlossen.
"Schlüsselrolle beim Heranwachsen eines Internet-Ökosystems"
Internetknoten wie der De-Cix sind längst entscheidend für die Entwicklung des Internets. Bei der Internet Society (ISOC) in Washington konzentriert man sich seit Langem auf den weiteren Ausbau. Oder besser: die Verknotung des Netzes - vor allem in Entwicklungsländern. ISOC-Direktorin Karen Rose ist bei der einflussreichen Nicht-Regierungsorganisation zuständig für Internet-Infrastrukturen. Sie verweist auf das Beispiel Kenia, wo ein neuer Internetaustauschpunkt bereits 1,5 Millionen Dollar jährlich einspare. Und er reduziere die Latenz, die Verzögerungszeit.
Bevor es in Kenia einen Internetknoten gab, habe die Latenz mehr als 600 Millisekunden betragen. Bei einer Latenz über 300 Millisekunden kann man keine Internettelefonie betreiben oder Videos herunterladen. Nur textbasierte Anwendungen sind möglich. Durch den neuen kenianischen Austauschpunkt wurde die Latenz auf zehn Millisekunden herabgesenkt. "Internetknoten spielen eine Schlüsselrolle für das Heranwachsen eines Internet-Ökosystems", ist sich Karen Rose sicher. Für die Einbindung von Schwellen- und Entwicklungsländern in die Internetökonomie wird eine effektivere Verknüpfung entscheidend sein.
Mit Netz und doppeltem Boden
Zurück im hessischen Frankfurt, vor dem Allerheiligsten, dem De-Cix "Cage 5A". Arnold Nipper öffnet einen der Metallspinde: "Das ist ein so genannter Switch", erklärt er. Alleinige Aufgabe dieses Spezialrechners ist es, Daten über ein Glasfaserkabelpaar zu empfangen und über einen neuen Port wieder rauszuschicken.
Der Laie erkennt kaum mehr als einen dicken Wust von gelben Kabeln, die in andere, schmalere gelbe Kabel münden. "Also es ist kein Wust!", protestiert Arnold Nipper. Es sei doch alles sehr aufgeräumt. Allein dieses dicke gelbe Kabel seien zehn sauber gebündelte Glasfaserkabel.
Wenn das aber alles schön gebündelt ist, wäre es nicht umso einfacher, hier mal eben die Schere zu zücken um Deutschlands Hauptinternetstrom zu unterbrechen - und damit das ganze Land lahm zu legen? "Wenn Sie dieses Kabelbündel durchschneiden, würde man acht mal zehn Gigabit Datenverkehr abtrennen", eine beachtliche Menge, bestätigt Arnold Nipper. Die Lichter in Deutschland würden dennoch nicht ausgehen. "Der Datenverkehr würde für einen kurzen Moment stocken, dann aber gleich weiter fließen", beruhigt Nipper.
Redundanz ist da das Stichwort: Strukturen wie der De-Cix sind redundant angelegt, es gibt alles mindestens doppelt. Wenn sein Herz, der Core-Switch ausfällt, springt ein baugleicher Ersatz ein, der ständig im Bereitschafts-Modus mitschlummert. Es gibt zwei Stromkreise, fallen auch die aus, springt erst eine Batterie und dann ein gewaltiges Dieselstromaggregat an.
Kein Ende des Wachstums in Sicht
Auch der dramatisch gestiegene Datenverkehr im Internet konnte den Knotenpunkt bislang nicht in die Knie zwingen. Derzeit liege das Wachstum bei 80 Prozent im Jahr, sagt Arnold Nipper. Der Grund sind vor allem die vielen HD-Filmportale und Mediatheken.
Während der Internetknoten in Kenia inzwischen auf einen respektablen Datendurchsatz von einem Gigabit pro Sekunde kommt, erwartet man in Frankfurt als nächstes das Erreichen der Rekordmarke von zwei Terabit pro Sekunde. Doch schon jetzt wären theoretisch mehr als 40 Terabit pro Sekunde drin, sagt Arnold Nipper. Eine reichlich abstrakte Größe. Er rechnet vor: Würde man die Datenmengen, die schon jetzt pro Tag durch den De-Cix rauschen, auf handelsübliche Festplatten laden und auf 30-Tonner-LKW stapeln, dann käme ein drei Kilometer langer Konvoi heraus. Die Autobahn 661 draußen vor der Tür in Frankfurt-Fechenheim wäre damit dicht. Auf der Datenautobahn aber ist offenbar noch einen Menge Platz.