Chris Dercon startet erfolgreich
10. September 2017"Fous de danse - Ganz Berlin tanzt": Das war die Einladung der Berliner Volksbühne an die ganze Stadt, zwölf Stunden "verrückt nach Tanz" zu sein. Alle sollten mitmachen am Hangar 5 auf dem früheren Tempelhofer Flugfeld. Scheinbar unbeeindruckt von den Anfeindungen der letzten beiden Jahre breitet die Berliner Volksbühne ihre Arme ganz weit aus und geht auf die Stadt zu. Trotzdem: Zum Auftakt der ersten Saison ist der neue Intendant der Volksbühne, Chris Dercon, immer noch hochumstritten.
Dercon im doppelten Shitstorm
Dercon musste zuletzt viel aushalten: in den sozialen Netzwerken gab es Pöbeleien, Hasstiraden und eine Petition gegen ihn mit mehr als 40.000 Unterschriften. Und dann war da noch der ganz und gar nicht virtuelle Shitstorm: Als der neue Intendant Anfang August "deutsche Fäkalien" vor seinem Büro fand, habe er das erste Mal daran gedacht, seine Koffer zu packen und Berlin zu verlassen, verriet Dercon der Deutschen Welle.
Das war der Gipfel der Geschmacklosigkeit im Kulturkampf um die Volksbühne, dieser linken Berliner Traditionsbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, die nach der 25-jährigen Regentschaft ihres Dauerintendanten Frank Castorf in die Hände des belgischen Museums- und Ausstellungsexperten gegeben wurde. Dercon will die Volksbühne als internationale Kunst-Plattform profilieren und sie für Kunstformen jenseits des Sprechtheaters öffnen: Tanz, Performance, Experimentelles. Für die Gegner ein Anschlag auf das Ensemble-Theater Castorf'scher Prägung. Nach all den Verhinderungs-, Einschüchterungs- und Hassaktionen grenzt es an ein Wunder, dass es jetzt wirklich losgeht mit der ersten Saison der "neuen" Volksbühne.
Unbeschwerte Volksfeststimmung
Und noch ein Wunder: Bei dem zwölfstündigen Tanz-Marathon, der vom französischen Choreographen Boris Charmatz entwickelt und inszeniert wurde, herrscht heitere Volksfeststimmung. Von der Anspannung der letzten Jahre ist nichts zu spüren. Tausende sind gekommen, um mitzutanzen, sich antanzen zu lassen, zuzuschauen, zu diskutieren oder einfach nur mit Familie oder Freunden Spaß zu haben. Boris Charmatz ist Franzose und leitet das "Centre choréographique national" in Rennes. Für Dercon eine sichere Bank. Charmatz hat eine Philosophie des virtuellen Tanzmuseums entwickelt: Sein Museum ist der menschliche Körper, der persönliche und gesamtgesellschaftliche Erinnerungen speichert. Charmatz gelingt es dabei immer wieder, Menschen und Tänzer zu temporären Gemeinschaften zusammenzuschweißen und mit ihnen zu experimentieren. Das gelingt auch beim Aufwärm-Workshop zu Beginn von "Ganz Berlin tanzt", bei dem er mit Charme und natürlicher Autorität das Publikum in Bewegung bringt.
Was der Tanz alles kann
Es entsteht eine Stimmung, die den ganzen Tag präsent bleibt. Was im Tanz alles möglich ist, demonstrieren in den folgenden Stunden die über 17 Kooperationspartner der Volksbühne: Etwa die Mädchen des Jugendballetts der Staatlichen Ballettschule, die mit natürlicher Eleganz Auszüge aus dem Ballett-Klassiker "Le Corsaire" vorführen - und das nicht in feinem Tutu, sondern in Jeans und asphaltgemäßen Sportschuhen. Noch ist der letzte Ton der Musik von Adolphe Adam nicht verklungen, da rufen schon die Beats der "Flying Steps" das Publikum nur wenige Schritte entfernt zur nächsten Performance. Bei den wilden "battles" der jungen Hip-Hop-Talente entfaltete sich die ganz andere Energie des "urban dance".
Wie mutig dann, mit einer vollkommen stillen Tanzperformance dagegenzuhalten. In weißer Kleidung und Turnschuhen vollziehen vier Tänzerinnen 40 komplexe, kreisförmige Figuren – mit weitausgreifenden Schritten und schwingende Armbewegungen. Dieses minimalistische Raumexperiment schlägt die Zuschauer genauso in ihren Bann wie später der syrische Tänzer Mithkal Alzghair, der in der Choreographie "Displacement" von Bürgerkrieg und Verfolgung erzählt und am Ende entkräftet und notdürftig bekleidet auf dem Asphalt zusammenbricht.
Punktsieg für Dercon
Am Ende ist die Bilanz positiv: Dercons erster Aufschlag ist rundum geglückt. Das wird seine Gegner nicht besänftigen, aber ihm im Gegenzug dringend benötigte Anhänger und Unterstützer bescheren. Sicher wird er sich den Vorwurf der neuen Beliebigkeit noch anhören müssen. Doch es ist nur fair, Chris Dercon Zeit zu geben, um aus der ungeheuren Vielfalt seiner künstlerischen Aktivitäten eine eigene, eine neue Volksbühnen-Signatur zu schaffen.