Der Pandemieplan der Berliner Philharmoniker
28. August 2020Zur Saisoneröffnung am 28. August spielen die Berliner Philharmoniker unter Leitung ihres Chefdirigenten Kirill Petrenko die Vierte Symphonie von Johannes Brahms und Arnold Schönbergs "Verklärte Nacht". Es ist der Beginn der ersten - und vielleicht nicht der letzten - Saison während der Corona-Pandemie.
Den Vorgaben des Berliner Senats zur Infektions-Prävention folgend, ist das Platzangebot in der Berliner Philharmonie stark eingeschränkt: Nur 20 bis 25 Prozent der Sitzplätze dürfen belegt werden, mit Regelabständen dazwischen. Zum Hygienekonzept gehören auch Maskenpflicht zu Konzertbeginn, geregelte Einlasszeiten und -orte, keine Konzertpausen und ein ausgetüfteltes Wegeleitesystem. Einlasskarten werden aus sicherer Entfernung gescannt, mehr Frischluft wird vom Außen eingeführt, Reinigungsintervalle werden erhöht, Kontaktdaten aller Besucher*innen werden aufgenommen. Und dann stehen reichlich Säulen mit Desinfektionsmittel-Spendern im Foyer.
Zur "guten" Nachricht gehört die Tatsache, dass die Musiker nach fünf Monaten Kurzarbeit überhaupt wieder vor Publikum spielen können. Neuland wird vom Orchester und von seiner Intendantin Andrea Zietzschmann betreten, die im DW-Gespräch erklärt, was in diesem besonderen Jahrgang auf dem Spielplan steht.
Deutsche Welle: Beim stark reduzierten Kartenangebot müssten Sie mit einem großen finanziellen Verlust rechnen. Ist das so?
Andrea Zietzschmann: Die Verluste dieses Jahres durch die fehlenden Karteneinnahmen waren sehr groß. Ein dreiwöchiges Gastspiel im Mai, eine Tournee in den USA im November: alles abgesagt. Der wieder aufgenommene Spielbetrieb mit einem kleinen Platzangebot ist nicht kostendeckend. Ja, wir rechnen am Ende des Jahres mit einem großen Defizit.
Bekannt ist die Vorgabe: 1,5 Meter Abstand im Saal, zwischen den Sitzplätzen, davor und dahinter. Ist das in Stein gemeißelt?
Wir hoffen auf eine Lockerung nach dem Schachbrettmuster. Dann kämen wir auf 50 Prozent der Belegung, so wie es jetzt in Kinos erlaubt ist. Wir haben in der Philharmonie eine günstige Einlass-Situation mit großen Foyers und vielen Eingängen. So können auch bei einer 50-prozentigen Auslastung große Menschenansammlungen vermieden und ein sicheres Konzerterlebnis gewährleistet werden.
Während der Pandemie redet man oft vom fehlenden Gemeinschaftserlebnis eines Live-Klassik-Konzerts. Aber was ist das eigentlich? Denn normalerweise sitzen die Leute zwar eng zusammen, aber wenn sie sich nicht schon kennen, reden sie meistens nicht miteinander. Allenfalls wird kollektiv zum Schluss geklatscht. Was haben aber Publikum und Musiker eigentlich von dieser Art Gemeinsamkeit, oder anders gefragt: Was fehlte Ihnen bisher im Jahr der Pandemie?
Die Wärme, die vom Publikum normalerweise kommt und inspirierend für den künstlerischen Prozess ist, fehlt. Jetzt werden wir wieder vor Publikum spielen, trotzdem ist es anders. Ich war neulich im Boulez-Saal, da spielte das Divan-Orchester mit Daniel Barenboim, und da waren 150 belegte Plätze. Ein ganz merkwürdiges Erlebnis, weil man so isoliert sitzt, dass man denkt, es wird ein Privatkonzert für einen gegeben.
Auch das könnte etwas Schönes an sich haben.
Kann es, ja, aber wir machen die Kunst, um sie mit möglichst vielen Menschen teilen zu können.
Sie sprechen von Wärme und Inspiration, die vom Publikum auf die Bühne strömt und die Musiker inspiriert. Aber hier haben wir es mit einem hoch professionellen Klangkörper, den Berliner Philharmonikern, zu tun. Müssten sie nicht doch ein Niveau erreicht haben, dass sie von externen Zuständen unbeeinflussbar sind?
Gut, wir kennen auch Situationen, wie eine CD-Produktion, wo kein Publikum da ist. Da kann man auf ganz hohem Niveau musizieren und tolle Aufnahmen machen. Aber ich glaube, die besonderen, magischen Momente entstehen einfach gemeinsam mit dem Publikum.
Die Programme sind jetzt kürzer, zwischen 60 und 90 Minuten, ohne Pause. Was mussten Sie in Bezug auf Repertoire weglassen, und warum?
Unter der Maßgabe der Abstände, die wir berücksichtigen müssen, passen höchstens 60 oder 65 Musiker auf der Bühne. So mussten wir einige groß besetzten Werke wie Anton Weberns "Passacaglia" weglassen. Bis Ende Oktober: keine Sinfonien von Mahler oder Bruckner, keine großen Tondichtungen von Richard Strauss. Ende Oktober war ein neues Werk von Andrew Norman geplant, das wir aber besetzungsmäßig nicht auf die Bühne bekommen konnten. Man hat dann mit dem Komponisten gesprochen, und jetzt schreibt er ein neues Werk für uns, in kleinerer Besetzung. Das ist natürlich fantastisch.
Nun gibt es eine neue Empfehlung von der Charité, mit einem Meter Abstand für die Streicher und 1,50 für die anderen Instrumente. Das wäre essentiell für das Zusammenspiel, denn die großen Abstände schränken dermaßen ein. Zum Glück gibt es schon Erfahrungswerte, zum Beispiel in Österreich. Da spielen die Wiener Musiker seit Anfang Juni mit einem Meter Abstand - oder die Wiener Philharmoniker mit gar keinem Abstand, ohne dass es Infektionsfälle gab. Alle Experimente und Analyse zeigen, dass eine weitere Reduzierung denkbar ist. Bei den Streichern ist es übrigens so, dass alle nach vorne, in eine Richtung spielen, was nach der Bewertung der Fachleute ganz entscheidend ist.
Alle wollen ja eine Rückkehr zur Normalität. Aber die Glas-halb-voll-Frage: Welches Potential steckt in dieser ungewöhnlichen Saison? Was versprechen Sie sich davon, fürs Publikum und für die Musiker?
Was wir alle lernen ist, viel flexibler zu denken, Programme kurzfristiger zu beschließen, ein bisschen wegzukommen von der Zwei- bis Dreijahres-Planung im Voraus. Diese Flexibilisierung ist anspruchsvoll, aber auch eine ganz schöne Erfahrung. Aber letztendlich bringt die Pandemie so viele negative Folgen, dass nur wenig übrig bleibt, was ich positiv benennen könnte. Wir konzentrieren uns jetzt auf das Publikum in Berlin, sind aber ein international aufgestelltes Orchester und können und möchten reisen.
In diesem Moment des Innehaltens denken alle Künstler aber nach: Macht man weiter in dieser Dynamik? Das betrifft vor allem einzelne Dirigenten und Solisten, die wie verrückt durch die Welt gereist sind. Jetzt denken auch sie nach, ob dieser internationale Betrieb auf diesem Niveau eine Perspektive hat. Vielleicht werden wir alle mehr darüber nachdenken, ob ein Projekt wirklich sinnvoll ist. Das könnte ein positives Resultat der Pandemie sein.
Niemand weiß, wie lange das Virus da sein wird. Die Berliner Philharmoniker werden als Institution wohl überleben. Aber wie sieht die Klassik-Welt allgemein aus, wenn Corona nicht nur eine, sondern vielleicht zwei Saisons erfasst? Sind die Auswirkungen überhaupt einzuschätzen?
Hätten wir wirklich zwei Saisons mit gar keinem oder mit diesem reduzierten Spielbetrieb, dann wäre für viele Institutionen eine absolute Existenzkrise angesagt. Das gilt besonders für die freien Orchester. Sie brauchen Auftrittsmöglichkeiten, leben von den Einnahmen und nicht von Sponsoren und Subventionen. Aber auch Agenturen und Festivals: Es ist ein System, das miteinander verwoben ist und gut funktionieren muss. Wir brauchen unbedingt eine Perspektive ab dem Frühjahr 2021, für die folgende Saison. Zwei Jahre Pandemieplan kann unser System kaum vertragen.
Und was wäre jetzt konkret erwünscht?
In Berlin ist gerade eine Debatte gestartet darüber: Wie viel Publikum kann ein Konzerthaus vertragen? Das ist total wichtig. Wir müssen diese Diskussion weiter intensiv führen.
Das klingt so, als sei die Diskussion bisher wenig differenziert, dass das Konzertwesen wie alle anderen Großveranstaltungen betrachtet wurde.
Ja. Ich wäre dafür, dass man Einzelbetrachtungen von Einzelhäusern macht: Konzerthäusern, Opern, Theatern. Wir sind keine Pop-Veranstalter mit 13.000 Menschen, und das Verhalten des Publikums ist ganz anders als bei einem Popkonzert: Die Leute sitzen ruhig, und wie Sie bereits sagten. Sie reden nicht viel miteinander.
Man muss das dringend differenziert betrachten. Auch ganz wichtig: Man sollte Erfahrungen und Erkenntnisse aus anderen Ländern in die Diskussion in Deutschland einbeziehen.
Das Gespräch führte Rick Fulker.