Berliner Mauer: Archäologie gegen das Vergessen
9. November 2022Eigentlich wirkt es wie ein Stück Stadtrand. Und doch liegt dieses Stück Mauer mitten in der Mitte Berlins. Keine zwei Kilometer sind es bis zum Reichstag, kaum 500 Meter bis zum gewaltigen Komplex des Bundesnachrichtendienstes. Hier an der Liesenstraße stehen 15 Meter Mauer. Original-Mauer. Zwischen S-Bahn und wildem Grün.
"Im Grunde genommen erinnert hier kaum noch etwas an die Berliner Mauer und die Teilung der Stadt", sagt Torsten Dressler. Der 55-Jährige, geboren in Neubrandenburg in der damaligen DDR, ist Archäologe. Seine Doktorarbeit schrieb er über Grenzanlagen und Fluchttunnel an der Berliner Mauer. Seitdem, erläutert er, grub er auch bereits vier Wachtürme aus, unter anderem am nahegelegenen Berliner Nordbahnhof und an der sogenannten East Side Gallery. Er ist so etwas wie ein Archäologe des Mauerstreifens. Jenes Bauwerks, das für 28 Jahre, vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989, die heute so pulsierende Stadt zerschnitt. Und an dem nach offiziellen Angaben 140 Menschen ihr Leben ließen.
Nur wenige Reste der Mauer
Und archäologischen Spürsinn braucht es. Denn von den 160 Kilometern Mauer oder, wie die kommunistische Führung in Ost-Berlin sagte, "antifaschistischem Schutzwall", die West-Berlin einschlossen, sind nur noch wenige Abschnitte erhalten. Vor allem ist da die wegen ihrer Graffiti weltbekannte East Side Gallery mit 1,3 Kilometern Länge. Zudem stehen 200 Meter an der "Topographie des Terrors" unweit des Potsdamer Platzes. Ansonsten gibt es an einzelnen Stellen immer nur wenige Meter Mauer.
Vielerorts, auch am westlichen Ende der Liesenstraße, mussten die verbliebenen Reste der Mauer modernen Neubauten weichen. Geschichte verschwand. Aber hier am östlichen Ende der Liesenstraße liegen beiderseits der Straße Friedhöfe. Man kann innerhalb weniger Minuten vom Grab des Schriftstellers Theodor Fontane (1819-1898) und seiner Frau zur letzten Ruhestätte des Regisseurs und Aktionskünstlers Christoph Schlingensief (1960-2010) schlendern, vom Hotelier Lorenz Adlon (1849-1921) zum Zirkusdirektor Paul Vincenz Busch (1850-1927).
Die Flächen südlich der kopfsteingepflasterten Liesenstraße gehörten zu Ost-Berlin, auch die Friedhofsflächen. Die DDR-Machthaber machten bald nach dem Mauerbau hunderte Gräber platt. Nur an einige davon wird heute noch erinnert.
"Mit dem Mauerbau wurden die Gräber abgerissen, die zwei größten der sechs Abteilungen des Friedhofs. Das war wirklich eine Gewalttat", sagt Galina Kalugina von der Verwaltung von "St. Hedwig I", dem ältesten noch bestehenden katholischen Friedhof der Stadt, der Deutschen Welle. Der Bau des sogenannten Todesstreifens traf knapp ein Drittel der Anlage. Kalugina ist froh, dass die gesamte Anlage vor wenigen Jahren den Status eines Denkmals von nationaler Bedeutung bekam. Nun werden historische Grabanlagen vom Denkmalschutzamt saniert.
Geplant ist eine Dauerausstellung
Dank des Denkmal-Charakters wurde in den vergangenen eineinhalb Jahren auch die baufällige Friedhofsmauer nahe der Berliner Mauer restauriert. Geplant ist eine Dauerausstellung, zu der in Bälde Details vorgestellt werden sollen.
Abzuwarten bleibt, ob neben den Bodenresten künftig ein Turm weithin den Mauerverlauf zeigt. Denn bei den Bodenarbeiten wurden nicht allzu viele Reste gefunden - wohl aber die Fundamente eines Wachturms, der hier stand. Die Experten wissen: Hier stand ein Wachturm vom Typ "BT6, ein runder Schaft mit großem breitem Vogelnest, einer Kanzel als Rundumblick, oben".
Archäologe Dressler wünscht sich, dass ein solcher Turm wieder an diese Stelle kommt, ganz in die Nähe der S-Bahn-Strecke. Er habe das Ziel, die Fundamente freizulegen und dort wieder einen Grenzturm aufzubauen. Typ BT6. "Der Turm ist sozusagen das prägnante Grenzelement an dieser Stelle", sagt er der Deutschen Welle, "von beiden Seiten sichtbar, von West und Ost. An diesem Grenzturm manifestiert sich die Zerteilung, der Schnitt durch die Stadt." Auch unweit des Turms gab es Fluchtversuche und Schüsse. Einige hundert Meter nach Süden endete im Juni 1965 auf dem Gelände des Nordbahnhofs die nächtliche Flucht des 17-jährigen Dieter Brandes, der ein halbes Jahr später an den Folgen seiner Verletzungen verstarb.
Nun sind nur die wenigsten Grenztürme aus DDR-Zeiten erhalten geblieben. Aber - das weiß Dressler – ein Original-Exemplar BT6 existiert. Vor einigen Monaten hat Dietmar Arnold, der Vorsitzende des auf den Erhalt unterirdischer Bauten spezialisierten Vereins "Berliner Unterwelten", der "Gedenkstätte Berliner Mauer" die Reste eines solchen Mauer-Wachturms geschenkt. Es braucht nur ein paar kurze Erläuterungen Dresslers und einige Minuten Fußweg, dann entdeckt man im Depot der Gedenkstätte das "Storchennest", daneben Elemente des Schafts.
Aber soll der Turm auf die freie Friedhofsfläche? Es sei, sagt Galina Kalugina, "unendlich wichtig, zu erinnern, was dem Friedhof passiert ist. Man darf eigentlich nichts vergessen." Sie selbst, sagt sie, könne sich einen solchen Turm in oder neben Bestattungsflächen schwer vorstellen. Aber die Fundamente des historischen Wachturms habe sie während der Arbeiten im Boden selbst gesehen.
Vorerst steht die Entscheidung nicht an. Denn zum einen ist der untere Teil des Turms, der im Depot der "Gedenkstätte Berliner Mauer" liegt, arg beschädigt; er stand wohl ursprünglich auf einem Truppenübungsplatz und wurde dort mal von einem Panzer "angefahren", wie Cornelia Thiele, die Sammlungskuratorin der Gedenkstätte, der DW sagt. Zum anderen soll er, falls die Wiederherstellung gelingt, als Teil einer Wanderausstellung auf Tour gehen, die 2024 in der spanischen Hauptstadt Madrid starten soll. Es bleibe abzuwarten, ob man ihn dabei aufstellen könne. Aber klar ist auch: Irgendwann würde er zurückkehren nach Berlin.
Und dann vielleicht doch an der Liesenstraße das Ensemble aus 15 Metern Grenzmauer, Grenzzaun und Hinterlandmauer aufwerten. "Genau so ein Turm stand doch an der Liesenstraße", sagt Arnold von den "Berliner Unterwelten". "Wir wollen hier ja kein Disney-Land machen. Wenn man aber den Turm und die Fundamente hat…" Kurzum: Er fände es sinnvoll, den Turm wieder aufzubauen.
"Die Teilung erinnern"
Auch Dressler bleibt zuversichtlich. An markanten Stellen des früheren Mauerverlaufs könne "die Erinnerung an die Teilung der Stadt wieder aufgerufen werden", sagt er. Das Gedenk-Areal der Bernauer Straße, gut einen Kilometer südlich der Liesenstraße gelegen, sei dafür ein gutes Beispiel. Es zählt Jahr für Jahr mehrere Hunderttausend Besucher. Aber auch hier am Rand des St.-Hedwig-Friedhofs könne das gelingen. Eigentlich, sagt er, "verbindet man Archäologie ja mit viel älteren Epochen, von denen es keine Schriftzeugnisse oder Zeitzeugen gibt. Das Spannende an dieser modernen Archäologie hier ist, dass man mit verschiedenen Quellen arbeiten und sie überlagern muss." Für ihn ist das auch Archäologie gegen das Vergessen. 33 Jahre danach, nach dem Fall der Mauer.
Hinweis: Unter www.mauerspuren.de hat die Gedenkstätte Berliner Mauer eine interaktive Karte, die an Zeugnisse und Spuren der Berliner Mauer erinnert und von Nutzern ergänzt werden kann.